Funktionale Architektur im Vormarsch gegen den Historismus

Architektur 1913:

Nachdem die gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch bedeutende historistische Bauweise zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits vom Jugendstil bekämpft worden war, kommt vor dem Ersten Weltkrieg das funktionale Bauen verstärkt auf. Entsprechend orientierte Architekten kritisieren am Historismus die Nachahmung vergangener Epochen. Sie fordern stattdessen eine zeitgemäße Bauweise, die auch die Möglichkeiten moderner Materialien und neuer technischer Konstruktionen berücksichtigt. Stahl und Stahlbeton gehören dabei zu den wichtigsten Baustoffen.

Eine beispielhafte Lösung für die immer häufiger errichteten großen Stahlbetonhallen bietet die am 20. Mai 1913 nach zweijähriger Bauzeit eingeweihte Jahrhunderthalle in Breslau, entworfen von dem deutschen Architekten Max Berg. Dieser Zentralbau mit seiner eher schmucklosen Halle ist für unterschiedliche Veranstaltungen gedacht (Sport, Konzerte, Theateraufführungen, Ausstellungen und Versammlungen).

Eines der ersten deutschen Kinogebäude wird im Februar 1913 am Berliner Nollendorfplatz nach dem Plan des deutschen Theater-Architekten Oskar Kaufmann errichtet. Den fensterlosen Bau kennzeichnet eine straffe, fünfgliedrige Ordnung. Durch seine funktionale Gliederung fällt auch der von dem deutschen Architekten Paul Bonatz projektierte Stuttgarter Hauptbahnhof auf, dessen Bau 1913 begonnen und 1928 beendet wird. Als einer der ersten modernen Kopfbahnhöfe in Europa erhält er Wartesäle, Wirtschafts- und Nebenräume in zwei Flügeln entlang der Gleise.

Der 1913 im Bau befindliche Hauptbahnhof von Helsinki (Bauzeit: 1910 – 1914) des finnischen Architekten Eliel Saarinen weist mit seiner markanten vertikalen Gliederung eine vergleichbare, an der Nutzung des Gebäudes orientierte Gestaltung auf.

Der französische Architekt Tony Garnier konzipierte mit dem 1913 in Betrieb genommenen Schlachthof von Lyon eine 210 m lange und 80 m breite Halle, die von Dreigelenkbögen aus Stahl überspannt wird. Im gleichen Jahr beginnen die dreijährigen Bauarbeiten des von Garnier entworfenen, aus einer Stahlbetonkonstruktion bestehenden Sportstadions von Lyon.

Dasselbe Material verwandte der belgische Architekt Henry van de Velde in seinem Entwurf zum im Jahr 1913 fertiggestellten Théâtre des Champs-Élysées in Paris, der von dem Franzosen Auguste Perret weiterbearbeitet wurde. Bereits 1907 plädierte van de Velde in seiner theoretischen Schrift »Der neue Stil« für eine stärker zweckgebundene Anwendung von Material und Konstruktion und eine einheitliche Raumgestaltung.

Allerdings setzt sich der funktionelle Stil im Jahr 1913 noch nicht endgültig durch: Das am 15. September eingeweihte Rathaus von Berlin-Spandau weist ebenso wie die neuen Wohnbauten von Berliner Millionären am Kurfürstendamm deutlich den stilistischen Einfluss des vom Prunk geprägten 19. Jahrhunderts auf.

Ins Visionäre gesteigert wirkt die Neue Stadt, ein futuristischer Entwurf für eine Wohnsiedlung, an dem der italienische Architekt Antonio Sant’Elia (1888 – 1916) nun im dritten Jahr arbeitet. Die glatten Formen, die horizontalen und vertikalen Gliederungen und das in mehreren Ebenen angelegte Verkehrssystem weisen weit über die Zeit hinaus und machen Sant’Elia zum Begründer moderner italienischer Architektur, obwohl seine Entwürfe unausgeführt bleiben.

Chroniknet