Talsohle im Kunstgewerbe

Wohnen und Design 1914:

Trotz bedeutender Ausstellungen zeichnet sich das deutsche Kunstgewerbe durch eine gewisse Orientierungslosigkeit aus.

Nach fruchtbaren Bemühungen um die Entwicklung einer Produkt- und Raumästhetik in den vergangenen Jahren drohen die kunstgewerblichen Diskussionen 1914 in eine Sackgasse zu geraten. Dabei stehen sich innerhalb des Deutschen Werkbundes zwei Positionen gegenüber: Die Forderung nach individuell-schöpferischer und nach normiert-typisierender Formengebung. Protagonisten des Streits, der auf der siebten Jahresversammlung des Werkbundes am 3. und 4. Juli in Köln seinen Höhepunkt findet, sind der deutsche Architekt Hermann Muthesius und der belgische Kunstgewerbler Henry van de Velde. Parallel dazu liefert die große Werkbundausstellung einen Überblick über das künstlerische Repertoire dieser bedeutendsten kunstgewerblichen Vereinigung im Deutschen Reich. Die verbreitete Skepsis angesichts der Entwicklung im Kunstgewerbe fasst der Werkbund-Mitgründer Muthesius bei der Ausstellung in folgenden Worten zusammen: »Die Gesamtstimmung ist die einer gewissen Ruhe und Unentschiedenheit, um nicht zu sagen Flauheit.«

Deutlich werden die Orientierungsprobleme auch auf der Darmstädter Kunstgewerbeausstellung, der zweiten bedeutenden Kunstgewerbeschau 1914 mit Arbeiten u. a. von dem 40-jährigen deutschen Bildhauer und Architekten Bernhard Hoetger und dem deutschen Architekten Albin Müller (genannt Albinmüller). Am 1. April urteilt der Publizist Paul Fechter in seinem »Kunstgewerbekrisen« betitelten Aufsatz in der Berliner »Vossischen Zeitung« über die Ausstellung auf der Mathildenhöhe, dem Sitz der Darmstädter Künstlerkolonie: »Man trifft nicht Entwicklung, sondern Stillstehen, nicht Konsolidierung, sondern Auflösung, nicht Ziele, sondern Verwirrung.« Herausragendes Objekt der Darmstädter Kunstgewerbeausstellung ist ein von Albin Müller entworfenes Ensemble von Mietshäusern. Der 39-jährige Architekt – Autor des 1909 erschienenen Werkes »Architektur und Raumkunst« – orientierte sich dabei streng an einer funktionalen Ausrichtung der Bauten.

Die intensive Beschäftigung deutscher Architekten mit neuen Formen des Wohnungsbaus ist eine Folge der wachsenden Wohnraumprobleme im Deutschen Reich, mit denen sich auch die Parlamente befassen. So findet am 17. Januar im preußischen Landtag in Berlin die erste Lesung des preußischen Wohnungsbaugesetzes statt. Nach vergeblichen Anläufen zwischen 1898 und 1907 sorgten reformorientierte Politiker im preußischen Innenministerium für eine neue Initiative zur Wohnungsbaureform. Vorausgegangen war 1910 ein Zusammenbruch des Baumarktes; danach forderten sowohl bürgerliche Wohnreformer als auch Sozialdemokraten staatliche Eingriffe auf dem Wohnungsmarkt. Hauptanliegen ist dabei die Förderung des gemeinnützigen Wohnungsbaus durch Baugenossenschaften vor allem bei Kleinwohnungen. Zusätzlich ließen wachsende Finanzierungsprobleme für die gemeinnützigen Baugenossenschaften den Ruf nach staatlicher Hilfe beim Grundstücksverkehr und bei der Kreditaufnahme lautwerden. Am 25. Januar 1913 wurde der Gesetzentwurf veröffentlicht. Er sieht u. a. baupolizeiliche Vorschriften vor, die eine spekulative Ausnutzung von Grund und Boden einschränken sollen. Hinterhofbebauung und Errichtung von tiefen Flügelbauten sollen verhindert und das sog. Schlafgängerwesen (Schlafstelle ohne Wohnmöglichkeit, insbesondere für Schichtarbeiter) eingedämmt werden. Zudem schreibt es die Anlage von Grün- und Spielflächen vor.

Eine Lobby von Haus- und Grundstückseigentümern verhindert jedoch die rasche Verabschiedung des Gesetzes. Schließlich wird es erst 1918 – nach Erliegen privatwirtschaftlicher Bautätigkeit während des Krieges – parlamentarisch gebilligt. Allgemein gilt es als wichtiger Schritt zu einer gemeinnützigen Wohnungsversorgung.

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