Männermangel zwingt Staat zur Förderung der Frauenbildung

Bildung 1918:

Das Bildungswesen im Deutschen Reich wird im Jahr 1918 noch stärker als in den Vorjahren durch den jetzt im vierten Jahr stehenden Weltkrieg geprägt.

Schulen und Hochschulen haben unter der Tatsache zu leiden, dass ein Großteil des zumeist männlichen Lehrpersonals mittlerweile zum Kriegsdienst eingezogen ist. Die kommunalen Schulbehörden müssen wegen des Lehrermangels dazu übergehen, mehrere Schülerjahrgänge in einem Raum zusammenzufassen. Obwohl viel weibliches, eigentlich nicht für den Lehrberuf ausgebildetes Hilfspersonal eingestellt wird, kommt es doch in steigendem Maße zu Unterrichtsausfällen, denn auch die Frauen werden mit Vorrang als Krankenpflegerinnen für verletzte Frontsoldaten gebraucht.

Die Bildungspolitiker denken 1918 verstärkt darüber nach, wie man durch eine bessere Frauenbildung erreichen könnte, dass in Zukunft mehr Frauen als bisher dazu in der Lage sein werden, Männer im Notfall am Arbeitsplatz zu ersetzen. Besonders wollen die Bildungspolitiker auch das Frauenfachschulwesen fördern. So hat der preußische Kultusminister am 31. Dezember 1917 einen Erlass zur Reform der Frauenoberschule veröffentlicht, der Frauen, die diese Schulen absolviert haben, den Zugang zur technischen Lehrerbildungsanstalt ermöglichen wird. Die 1908 erstmals eingeführte »Frauenschule«, die an das Lyzeum mit einer ein- bis zweijährigen (11. und 12. Klasse) Zusatzausbildung anschloss, hat sich nach den bisher vorliegenden Erfahrungen als unzureichend erwiesen, da sie nach eigenem Anspruch vor allem dazu dienen sollte, »dem Bildungsbedürfnis der heranwachsenden Mädchen nach ihrer Wahl und Neigung entgegenzukommen und ihrem inneren Leben einen würdigen Inhalt zu geben«.

Der Hauptmangel der bisherigen Frauenschule war, dass ihr Abschluss zu keiner qualifizierten weiteren Ausbildung berechtigte und somit eine reine Luxuseinrichtung für Töchter bürgerlicher Familien war. Die neue Konzeption der höheren Schule für Mädchen sieht vor, dass der Abschluss zum Eintritt in eine Schule für technische Lehrerinnen, Kindergärtnerinnen und Hortnerinnen berechtigt.

Zugang zu einem wissenschaftlichen Studium können sich Frauen nach wie vor nur verschaffen, indem sie das Abitur an privaten Internaten im Ausland ablegen. Es versteht sich von selbst, dass dieser Bildungsweg nur für Töchter sehr wohlhabender und zugleich ungewöhnlich aufgeschlossener Familien infrage kommt. Im Sommersemester 1918 studieren an den Hochschulen des Deutschen Reiches 7573 Studentinnen. Insgesamt gibt es aufgrund der Kriegsverhältnisse nur 25 430 ordentliche Studierende. Der hohe Prozentsatz weiblicher Studierender von 29,8% beruht einzig auf der Tatsache, dass die meisten männlichen Kommilitonen zum Frontdienst eingezogen worden sind. Zum Vergleich: Unmittelbar vor Kriegsausbruch im August 1914 waren 79 511 Studenten an den wissenschaftlichen Hochschulen des deutschen Reiches eingeschrieben, davon waren nur 5,4% Frauen.

Ebenso wie das schulische Bildungswesen steht auch der Bereich der Berufsausbildung 1918 unter dem Zeichen des Krieges. So denken die Bildungsplaner im Hinblick auf den erhofften baldigen Frieden darüber nach, wie die vielen, häufig kriegsbeschädigten Soldaten, die vielfach nicht über eine abgeschlossene Ausbildung verfügen, wieder in das Arbeitsleben eingegliedert werden können. Ein besonders großer Mangel wird nach Kriegsende voraussichtlich in den Handwerksberufen spürbar werden, denn die einschlägigen Ausbildungsbetriebe liegen seit Kriegsbeginn in vielen Fällen still. Eine finanzielle Unterstützung von Fachschulen und speziellen Verwundetenschulen durch staatliche und private Stiftungen läuft schon in den letzten Kriegsmonaten an. Ein großer Teil der von der Front zurückkehrenden jungen Männer wird auch Stipendien benötigen, um die notwendige Ausbildungszeit überbrücken zu können. Einige Industrielle richten deshalb spezielle Ausbildungsfonds ein.

Chroniknet