Ein langer Arbeitstag mit hohem Tempo

Arbeit und Soziales 1927:

Die Situation der in der industriellen Produktion Beschäftigten des Jahres 1927 ist durch ein ansteigendes Lohnniveau, einen Rückgang der Arbeitslosigkeit, eine Verbesserung der Arbeitslosenversicherung, auf der anderen Seite jedoch durch eine hohe Arbeitsintensität und einen langen Arbeitstag, ferner eine starke Benachteiligung der arbeitenden Frauen gekennzeichnet. Der Bruttotariflohn einer ungelernten Arbeiterin beträgt z. B. im Durchschnitt nur rund drei Viertel des Lohns eines ungelernten männlichen Kollegen.

Seit 1924, nach der Beilegung der Inflation, sind die Nettoreallöhne (bei denen die Preissteigerungen und die Abzüge für Steuern und Sozialversicherungen mitberücksichtigt sind) – mit einer Unterbrechung 1926 – kontinuierlich gestiegen und haben den Vorkriegsstand fast wieder erreicht. Legt man das Reallohnniveau von 1913/14 als Index 100 zugrunde, so ergibt sich folgende Entwicklung:

  • 1924:74
  • 1925:91
  • 1926:85
  • 1927:98

Die Arbeitslosigkeit liegt im Jahresdurchschnitt bei 1,327 Millionen; das sind 34,5% weniger als 1926. Die Januar-Arbeitslosenzahl von 2,091 Millionen ist die höchste des Jahres, im April sinkt die Zahl mit 986 152 zum ersten Mal seit November 1925 wieder unter die Millionengrenze. Eine genaue Berechnung der Arbeitslosenquoten ist erst nach Einführung der Pflichtversicherung gegen Arbeitslosigkeit im Juli möglich. Legt man die Prozentzahlen der in der Gewerkschaft organisierten Beschäftigten zugrunde, so ergibt sich für 1927 ein Prozentsatz von 8,8 gegenüber 17,9% 1926 und 8,3% 1925.

Das Arbeitstempo ist durch die Anwendung des Taylorismus und durch die damit einhergehende Fließbandarbeit gewaltig erhöht worden. Dieses System der wissenschaftlichen Betriebsführung ist von dem US-amerikanischen Ingenieur Frederick Winslow Taylor in den Jahren 1903 bis 1911 entwickelt worden und dient der Steigerung der Arbeitsproduktivität, u. a. durch Analyse des Arbeitsablaufs und durch Optimierung der Geräte, aber auch der Arbeitsbewegungen (kontrolliert durch Zeit- und Bewegungsstudien).

Der »Reichsausschuss für Arbeitszeitermittlung« (REFA), der sich an den Taylorschen Prinzipien orientiert, ist 1924 gegründet worden. Das REFA-System zerlegt den Arbeitsprozess in kleinste Arbeitsschritte, deren Dauer jeweils genau festgelegt wird. So werden die Zeiten für bestimmte Arbeitsvorgänge normiert; die Akkorde können auf diese Weise überbetrieblich vorkalkuliert werden.

Während sich die Gewerkschaft vor dem Weltkrieg wegen der größeren Arbeitshetze und der drohenden Dequalifizierung gegen den Taylorismus ausgesprochen hatte, gibt es Mitte der 20er Jahre – im Zuge der Integration der Arbeitnehmerorganisationen – eine ganze Reihe von Gewerkschaftern, die den Taylorismus für notwendig halten, um die Konkurrenzfähigkeit deutscher Produkte auf dem Weltmarkt zu sichern. Diese Gewerkschafter stehen dem Fließarbeitssystem, das auf den US-amerikanischen Automobilindustriellen Henry Ford zurückgeht, aufgeschlossen gegenüber. Auch der sog. »weiße Sozialismus« Fords, der auf die Propagierung einer »Betriebsgemeinschaft« unter Ausschaltung einer Interessenorganisation für die Arbeitnehmer hinausläuft und durch hohe Löhne die Arbeiter an das Unternehmen zu binden versucht, findet Anhänger in den Gewerkschaften.

Die Arbeitsproduktivität ist durch Taylorismus und Fordismus, durch verstärkten Einsatz von Elektromotoren, Pressluftantrieben, Automaten, Förderbändern und Elektrokarren – aber auch durch größere Auslastung der Maschinen – seit 1924 kontinuierlich angestiegen und liegt wieder über dem Vorkriegsniveau.

Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit in der Industrie liegt am Stichtag 1. September 1927 immer noch über 50 Stunden und ist sogar gegenüber 1926 noch einmal um 4% gestiegen. Das neue Arbeitszeitnotgesetz bringt keine durchgreifende Verkürzung der Arbeitszeit.

Chroniknet