Längere Arbeitszeiten und spätere Rente

Arbeit und Soziales 1939:

Der Mangel an Arbeitskräften, vor allem in der Rüstungsindustrie und in der Landwirtschaft, ist ein Hauptproblem der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik. Für die abhängig Beschäftigten bringt das Jahr 1939 eine weiter erhöhte Anspannung ihrer Arbeitskraft bei einer fortschreitenden Entrechtung am Arbeitsplatz.

Die Zahl der Beschäftigten im Altreich (Arbeiter und Angestellte) liegt im März 1939 bei 20,6 Millionen und ist damit um 1,2 Millionen höher als im gleichen Monat des Vorjahres. Die Zahl der Arbeitslosen klettert im März auf 134 017 , von denen 45% nicht voll einsatzfähig sind. Ende November 1939 beläuft sich die Arbeitslosenzahl im Deutschen Reich einschließlich Österreichs (ohne Protektorat Böhmen und Mähren und polnisches Generalgouvernement) auf 126 000 , von denen aber nur 18 000 als vollständig einsatzfähig gelten. 1939 sind in der »großdeutschen« Wirtschaft insgesamt 39,79 Millionen deutsche Arbeitskräfte tätig, darunter 14,9 Millionen Frauen. Hinzu kommen 301 000 Fremdarbeiter.

Zur Erhöhung des Arbeitskräftevolumens wird die Lebensarbeitszeit von Beamten des Reichsjustiz- und Innenministeriums am 20. Februar über 65 Jahre hinaus verlängert. Am 22. Februar bzw. 16. März wird die zwangsweise Schließung unrentabler Handwerks- bzw. Einzelhandelsbetriebe sowie die Eingliederung ihrer Inhaber in den industriellen Arbeitsprozess verfügt.

Nach der Besetzung der »Rest-Tschechei« am 15.März und der Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren werden bis September 1939 rund 100 000 tschechische Arbeiter ins Deutsche Reich verschleppt. Für sie gelten scharfe Strafbestimmungen beim Verdacht auf Arbeitsverweigerung und Sabotage.

Im Sommer 1939 arbeiten in der deutschen Landwirtschaft rund 37 000 Italiener, 15 000 Jugoslawen, 12 000 Ungarn, 5000 Bulgaren und 4000 Niederländer. Sie werden mit Hilfe der seit August 1938 in Berlin bestehenden Zentralen Ausländerkartei überwacht. Nach dem Polenfeldzug müssen rund 210 000 Kriegsgefangene im Deutschen Reich arbeiten, hinzu kommen etwa 40 000 polnische Landarbeiter.

Angesichts des weiterhin bestehenden Arbeitermangels befiehlt Hermann Göring, der Beauftragte für den Vierjahresplan, am 16. November den verstärkten Einsatz ziviler polnischer Arbeitskräfte. Ingesamt wird der Arbeitskräftebedarf aus Polen auf rund eine Million beziffert, davon 75% für die Landwirtschaft. Für die männliche polnische Bevölkerung des Generalgouvernements zwischen 18 und 60 Jahren wird am 26. Oktober die Arbeitsdienstpflicht eingeführt; Juden werden unter Arbeitszwang gestellt.

Für deutsche Arbeitnehmer gilt gemäß der Arbeitszeitverordnung vom 30. April 1938 der Achtstundentag. Allerdings machen zahlreiche Ausnahmeregelungen eine Ausdehnung auf zehn Stunden und mehr möglich. Im Dezember 1939 liegt die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden im Durchschnitt bei 49,3 Stunden pro Woche. Aufgrund der Arbeitshetze steigt die Zahl der gemeldeten Arbeitsunfälle und Berufserkrankungen 1939 auf 2 253 749 . Durch Verordnungen für einzelne Branchen wird die Arbeitszeitverlängerung rechtlich abgesichert.

So wird am1. April die Untertageschicht im Ruhrbergbau um 45 Minuten auf acht Stunden und 45 Minuten verlängert. Die Freizügigkeit am Arbeitsplatz, die schon durch die »Verordnung zur Sicherstellung des Arbeitskräftebedarfs bei besonderer staatspolitischer Bedeutung« vom 22. Juni 1938 eingeschränkt worden war, wird weiter reduziert.

Am 1. Januar tritt die Erweiterung des Pflichtjahres für Frauen in Kraft. Am 13. Februar regelt eine neue Arbeitseinsatzverordnung die Möglichkeit der Dienstverpflichtung neu. Am 10. März wird in Grundstoffindustrien das Kündigungsrecht eingeschränkt. Am 22. Mai wird der Kreis der Arbeitsbuchpflichtigen erweitert und am 11. Juli der Arbeitsplatzwechsel im deutschen Steinkohlenbergbau eingeschränkt. Noch vor Kriegsbeginn werden in verschiedenen Städten des Deutschen Reiches Frauen probeweise in der Industrie und bei der Reichspost eingesetzt. Nach dem Angriff auf Polen am 1. September werden die arbeitsrechtlichen Zwangsbestimmungen im Deutschen Reich weiter verschärft. So muss ab 1. September das Arbeitsamt jeder Kündigung zustimmen. Die Abschaffung der Mehrarbeits- und Feiertagszuschläge muss jedoch wieder zurückgenommen werden.

Chroniknet