Pragmatisches Bauen behindert programmatischen Wandel

Architektur 1951:

Die Architektur in der Bundesrepublik entwickelt sich in diesem Jahr unter dem Einfluss von Protagonisten der Moderne und Traditionalisten. Während die einen sechs Jahre nach Kriegsende an Baustile der 30er Jahre anknüpfen wollen (International Style) und sich am Schaffen der wegweisenden, im Ausland lebenden Architekten wie Ludwig Mies van der Rohe, Le Corbusier und Walter Gropius orientieren, übernehmen die anderen eine konservative, formalistische Bauweise. Allerdings überdeckt das nach wie vor ungelöste Problem der Wohnungsnot die Gegensätze in der Architektur der Bundesrepublik.

Zwar verlangt der Wohnraummangel rasches und pragmatisches Bauen, jedoch behindern ständig steigende Baukosten und Rohstoffmangel ein schnelleres Wiederaufbauprogramm. Die ECA-Sonderkommission (ECA = Economic Corporation Administration; Verwaltung für wirtschaftliche Zusammenarbeit) und das Bundeswohnungsbauministerium unter Eberhard Wildermuth schreiben in 15 Städten einen Wettbewerb für Architekten, Bauunternehmer und Wohnungsinhaber aus. Siedlungen mit ca. 50 m2 großen Wohnungen, die die Mieter später kaufen können, sollen errichtet werden. Die Kosten der 3000 Wohneinheiten belaufen sich auf rund 35 Mio. DM und werden aus den Mitteln der Marshallplanhilfe aufgebracht.

Dass die soziale Not praktisches Bauen verlangt, verdeckt das Dilemma deutscher Architektur, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ohne »geistiges Fundament« dasteht. Anregung und »weltanschauliche Hilfestellung« kommen vor allem aus Großbritannien, den USA und Frankreich.

Einer der Wegweiser ist Ludwig Mies van der Rohe, der 1951 die Lake Shore Drive Apartments in Chicago vollendet. Der letzte Bauhaus-Direktor, der 1937 in die USA emigrierte, arbeitet in Chicago als Professor für Architektur. Skelettkonstruktionen aus Stahl und Glas, Hochhausbauten, die durch Einfachheit bestechen, sind typisch für sein Schaffen in den USA. Neben dem Bau von Hochhäusern glänzt der in Aachen geborene Mies van der Rohe mit seinen Konstruktionsplänen für moderne Flachbauten.

Berühmt durch eingeschossige Häuser ist auch Richard Neutra, der seine Pavillons den landschaftlichen Formen anpasst und eine Architektur propagiert, die dem Menschen nutzen soll und kein Selbstzweck bleibt. Der US-Amerikaner österreichischer Herkunft wird in den USA zu einem der Hauptvertreter des modernen International Style, den auch der Deutsche Egon Eiermann in seiner Architektur weiterentwickelt.

Egon Eiermann, seit 1947 Dozent an der Technischen Hochschule in Karlsruhe, plant Gebäude, die durch Klarheit der Formen auffallen. »Seine« in diesem Jahr vollendete Taschentuchweberei in Blumberg besticht durch eine deutlich gegliederte Skelettstruktur, die leicht und überschaubar wirkt und eine Vorwegnahme des späteren »Container-Industriebaus« ist. Demgegenüber steht der klotzige und monumentale, der Tradition verhaftete Baustil eines Paul Bonatz, Wilhelm Kreis und Richard Riemerschmid.

Zwischen den deutschen Modernisten wie Eiermann, Hans Schwippert und Hans Scharoun und den Traditionalisten herrscht bei der Suche nach einer eigenständigen Architektur für die Nachkriegszeit keine »Funkstille«: Beim Darmstädter Gespräch diskutieren die Baumeister mit den Philosophen Martin Heidegger, José Ortega y Gasset und dem Soziologen Alfred Weber über »Mensch und Raum«.

Chroniknet