Petticoats und Twinsets

Mode 1956:

Kein Konsens besteht in diesem Jahr zwischen Haute Couture und der Mode für die »Normalverbraucherin«. Während in Paris Christian Dior die »Pfeillinie« mit nach oben gerutschter (Empire-)Taille propagiert, haben die meisten Hausschneiderinnen erst jetzt Diors tiefliegende Taille der H- und A-Linie des Vorjahrs voll akzeptiert. Einzige Konzession an die neue Pfeillinie ist das wiederaufgenommene Bolero.

Christobal Balenciaga macht Anleihen bei den z20er Jahren und präsentiert Sackkleider á la Charleston, die allerdings noch wenig Beachtung finden. Sehr erfolgreich sind dagegen die schlichten Kostüme von Gabrielle Chanel, die mit ihren kragenlosen, mit Borten umsäumten Hängerjacken und den bequemen, leicht ausgestellten Röcken zu einem unverkennbaren Markenzeichen werden.

Das in allen Modezeitschriften am meisten besprochene Kleid der Saison kommt aus dem Hause Lanvin-Castillo: Grace Kellys Hochzeitskleid. Es ist von Hand mit 80 000 Pailletten und 20 000 Perlen und Strasssteinen bestickt und kostet 1,2 Mio. Francs (14 400 DM). Es ist der Stoff, aus dem die Träume von Lieschen Müller sind und mit dem die Seiten der Regenbogen-Gazetten gefüllt werden.

Auf dem Modesektor haben allerdings nicht die Unterhaltungsblätter den höchsten Marktanteil, sondern Schnitthefte wie »Schwabe – der neue Schnitt«, das am stärksten verbreitete Blatt, gefolgt von der katholischen Monatszeitschrift »Frau und Mutter« und dem Modemagazin »Constanze«. Eine relativ niedrige Auflagenzahl hat das recht exklusive Modeheft »Elegante Welt«.

In der Tagesmode stehen 1956 Ensembles, Kleid-Paletot, Tailleur-Paletot, Deux Pieces und Kleid-Mantel in der Gunst der Frauen ganz oben an. Sie werden in vielfältigen Variationen und aus den unterschiedlichsten Stoffen wie Ottomane, Vigoureux, Jersey, Fresko, Salz-und-Pfeffer-Tweed oder Mako-Honan-Esbiline gefertigt. Kostüme und Kleider sind entweder kragenlos oder haben einen sehr großen, die Schultern bedeckenden Kragen. Die Modefarben der Saison sind Neapelgelb, Azurblau und Hummerrot.

In der Kleidung der jungen Mädchen dominieren nach wie vor der weite, neckisch wippende Petticoat-Rock und die enge Caprihose. Daneben tragen die »Backfische« auch jugendliche Hemdblusenkleider mit »Stehrock« aus Popeline, Perlon, Imprimés, Bordürenstoffen oder kariertem (Bauern-)Kölsch. In Deutschland stammen die erfolgreichsten Entwürfe für Wippröcke und Hemdblusenkleider von Felicitas Queisser und Bessie Becker. Modischer Renner in der Jugendmode ist ein kleines, viereckiges Halstuch – kein Teenager, der nicht ein kesses »Nikituch« besitzt, das zu einem regelrechten Sammelobjekt wird. Die Hosen, Fischer- oder Caprihosen genannt, müssen ganz eng an den Beinen anliegen, so dass ein kleiner Seitenschlitz am Beinende zum Hineinschlüpfen unbedingt nötig ist. Als Oberteil kommen enge Blüschen oder Twinsets (Pullover und Weste in gleicher Farbe), die die Oberweite betonen, in Frage. (Schließlich fühlt sich der Teenager erst mit BH erwachsen.) Vielen Mädchen, die nicht die erträumte Oberweite besitzen, hilft dabei die Schaumgummi-Industrie.

Der insgesamt leicht beschwingte Modestil wirkt sich auch auf die Schuhmode aus. Die Absätze werden deutlich dünner und die Schuhe vor allem in der Spitze zierlicher. Großen Einfluss auf die Jugendmode hat die aus den USA nach Europa schwappende Rock-‘n’-Roll-Welle. Ganz wie die Jugendidole Elvis Presley und der 1955 tödlich verunglückte James Dean gibt sich die männliche Jugend in der Kleidung »cool«. Sie trägt schwarze oder rosafarbene Hemden, Jeans oder Cowboy-Hosen und schwarze Lederjacken. Die Haare glänzen von Brillantine und die »Elvis-Schmachtlocke« wird ständig korrigiert. Ist »feine Kleidung« verlangt, kommt ein Anzug mit engen Ziehharmonika-Hosenbeinen und einem dünnen Strick als Krawatte – die »Slim-Jim« – in Frage.

Chroniknet