Schlechte Bedingungen behindern pädagogische Neuansätze

Bildung 1956:

Der Zustand des westdeutschen Bildungswesens gibt Anlass zu vielfältiger Kritik und z. T. heftigen Kontroversen. Trotz des wachsenden Wohlstands liegt an den deutschen Schulen und Universitäten manches im Argen. Nicht selten wird die Bildung vor allem mit Blick auf die materielle Ausstattung von Schulen und Universitäten geradezu als das »Stiefkind des Wirtschaftswunders« bezeichnet.

Die schwerwiegendsten äußeren Probleme lassen sich mit den Stichworten Mangel an Lehrkräften, Raumnot und unzureichende Ausstattung umreißen. Von diesen Mängeln sind alle Stufen des Bildungssystems, von der Volksschule bis zur Universität betroffen.

Die höheren Schulen (Gymnasien und Oberrealschulen) in der Bundesrepublik werden 1956 von insgesamt rund 770 000 Schülern besucht. Statistisch entfallen auf eine Lehrkraft 21 Schüler. Die durchschnittliche Klassenstärke liegt an höheren Schulen bei 31 Schülern. An den Volksschulen stellen sich die Verhältnisse noch schlechter dar. Die durchschnittliche Klassenstärke beträgt hier 36 Schüler, eine Lehrkraft muss sich im statistischen Durchschnitt um 37 Schüler kümmern. Unter diesen Umständen ist ein effektiver Unterricht kaum möglich. Die von reformorientierten Pädagogen erhobene Forderung, dass der Unterricht nicht nur der bloßen Wissensvermittlung dienen soll, sondern auch auf die spezifischen Bedürfnisse der Schüler eingehen muss, erscheint nahezu unerfüllbar.

Hinzu kommt der in vielen Regionen nach wie vor bestehende Raummangel, der einen geregelten Ablauf des Schulbetriebs erschwert. Neben ausreichend dimensionierten Klassenräumen fehlt es vor allem an gut ausgestatteten Fachräumen für den Chemie- und Physikunterricht sowie an geeigneten Sporthallen. Allerdings hat sich die Situation in den vergangenen Jahren durch Neu- und Erweiterungsbauten verbessert. Auch die Universitäten haben mit gravierenden Problemen zu kämpfen. Forschung und Lehre werden an vielen Hochschulen durch das Fehlen von Professoren und Assistenten beeinträchtigt. Insbesondere aus finanziellen Gründen bleiben viele Lehrstühle längere Zeit unbesetzt. Die Erhöhung der Bildungsausgaben ist darum eine wichtige Forderung an Bund und Länder.

Ein Thema, das in der Bundesrepublik Deutschland an Brisanz zunimmt, ist der Mangel an Chancengleichheit im Bildungswesen. An höheren Schulen und Universitäten sind Kinder aus Arbeiterfamilien stark unterrepräsentiert. Nur 8% der Schüler an den Gymnasien in der Bundesrepublik sind Arbeiterkinder. An den westdeutschen Universitäten entstammen von den insgesamt rund 104 000 Studenten rund 47% der Ober- und oberen Mittelschicht (höhere Beamte, leitende Angestellte, Professoren, Ärzte, Richter, Unternehmer etc.). Die Eltern von weiteren 47% der Studierenden gehören der Mittelschicht an (Ingenieure, Verwaltungsbeamte, Lehrer, mittlere Geschäftsleute etc.). Der Anteil von Unterschichtskindern an den Hochschülern ist somit noch geringer als bei Gymnasiasten. Da die Schulbildung entscheidende Bedeutung für die zukünftige gesellschaftliche Stellung hat, fordern vor allem Gewerkschaften und Sozialdemokraten zunehmend die Überwindung von »Bildungsbarrieren«. Unterstützt werden sie darin von zahlreichen Soziologen und Reformpädagogen, die eine größere Durchlässigkeit der westdeutschen Gesellschaft anstreben. Die Bildungsdiskussion beginnt allmählich, die engen Zirkel der Experten und staatlichen Gremien zu verlassen. Der »Druck von unten« ist 1956 allerdings gering; noch überdecken Konsuminteressen und Probleme der wirtschaftlichen Entwicklung bei der Masse der deutschen Bevölkerung Fragen der Bildungschancen der Kinder. Auch über die Bildungsinhalte, die der jungen Generation vermittelt werden sollen, wird mitunter leidenschaftlich debattiert. Den Ton geben dabei Pädagogen an, die den jungen Menschen in der konsumorientierten »Wirtschaftswunderwelt« der Bundesrepublik eine geistige Orientierung an den überkommenen Werten der klassischen Bildungsgüter geben wollen. An den überragenden Werken der Geistesgeschichte sollen die jungen Menschen lernen, das »Eigentliche« im Leben des Einzelnen wie der Gesellschaft von den Dingen der Konsumwelt zu unterscheiden. Vor allem einige jüngere Pädagogen kritisieren an diesem Konzept rückwärtsgewandte, sogar resignative Elemente. Sie fordern eine politischere und kritische Pädagogik, die die Herausforderungen der modernen Industriegesellschaft annimmt.

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