Bahn soll gesundschrumpfen

Verkehr 1977:

Vorrang für Schiene und öffentlichen Personennahverkehr oder Bevorzugung des Individualverkehrs wie gehabt – diese Frage steht im Mittelpunkt der verkehrspolitischen Diskussionen in der Bundesrepublik Deutschland. Dabei spielen sowohl finanzielle als auch verkehrstechnische und zunehmend ökologische Argumente eine Rolle. Staus auf der Autobahn, verstopfte Innenstädte und die Schadstoffbelastung der Luft machen Grundsatzentscheidungen dringend notwendig.

Das sauberste und unter ökologischem Aspekt dem Auto weit überlegene Verkehrsmittel, die Eisenbahn, fährt allerdings auch 1977 immer tiefer in die Krise. In diesem Jahr beträgt das Defizit der Deutschen Bundesbahn (DB) bereits rund 4,5 Mrd. DM; die Zuschüsse des Bundes an das Staatsunternehmen wachsen 1977 gegenüber dem Vorjahr um rund 4 Mrd. DM auf rund 15 Mrd. DM. Kein Wunder, dass Finanzminister Hans Apel (SPD) angesichts des rapide steigenden Zuschussbedarfs der Bahn Alarm schlägt. Auch im Vorstand der DB und im Bundesverkehrsministerium ist unumstritten, dass die Bahn ihre Ausgaben mittelfristig drastisch senken muss Welchen Stellenwert der Bundesbahn allerdings im Verkehrskonzept der Bundesrepublik zukommen soll, darüber gehen die Meinungen auseinander.

An sinkenden Fahrgastzahlen und stagnierendem Güter-Transport lässt sich ablesen, dass die Bahn in den vergangenen Jahren stark an Attraktivität verloren hat. Im Personenverkehr ist ihr Anteil auf 8% gesunken (1952: 40%), beim Gütertransport beträgt er nur noch rund 29%. Mit Lkw werden 1977 knapp 33% aller Güter innerhalb der Bundesrepublik transportiert (1970: 23%). Dem wachsenden Defizit will die Leitung der Bahn vor allem durch Rationalisierungen, umfassende Streckenstilllegungen und einen drastischen Personalabbau beikommen. 1976 legten die DB-Manager einen Plan vor, der die Kürzung des Streckennetzes von rund 29 000 km auf unter 18 000 km vorsah. Von diesem unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten optimalen Rumpf-Streckennetz rückte Verkehrsminister Kurt Gscheidle (SPD) jedoch nach heftigen Protesten u.a. von Gewerkschaft, Unternehmerverbänden und Handelskammern in eventuell betroffenen Gebieten bald ab. Die Stilllegung von Nebenstrecken soll nun in weit geringerem Umfang erfolgen. Bis 1980 sollen rund 6000 km Eisenbahnstrecke auf Bus-Verkehr umgestellt werden. Das neue Bahn-Konzept sieht zudem einen weiteren Abbau des Personals – 1977 sind bei der DB rund 390 000 Mitarbeiter beschäftigt –, eine Modernisierung des Leistungsangebots und eine Umstrukturierung des gesamten Verwaltungsapparats vor, um genaue Leistungs- und Erfolgskontrollen zu ermöglichen.

Auf der anderen Seite soll der Bau von Schnellfahrstrecken für Geschwindigkeiten bis 250 km/h der Bahn neue Kunden gewinnen. Bereits im Bau ist die Strecke Hannover-Würzburg, gegen die jedoch zahlreiche Bürgerinitiativen u.a. wegen starker Eingriffe in die Landschaft Protest erheben.

Die Autoindustrie sieht auch außerhalb des öffentlichen Nahverkehrs Möglichkeiten, den drohenden Zusammenbruch des innerstädtischen Individualverkehrs abzuwenden. So wird etwa in Tokio ein elektronisches Auto-Leitsystem erprobt, das den Fahrer durch optische und akustische Signale sicher und ohne Stau durch die Straßen dirigiert. Man gibt das Fahrziel ein, der Zentralcomputer des Systems errechnet sodann aufgrund von Daten zur Verkehrsdichte, die von Sensoren übermittelt werden, die günstigste Route und gibt diese an den Computer im Auto weiter. Die Volkswagen-Werke stellen 1977 ein eigenes Leitsystem vor, das nach den gleichen Prinzipien arbeitet und auch für weitere Strecken geeignet ist. Verkehrsexperten sind jedoch u.a. wegen der nötigen enormen Investitionskosten skeptisch, ob damit die innerstädtischen Verkehrsprobleme zu lösen sind.

Chroniknet