Auto-Boom ist ungebrochen

Verkehr 1978:

Der Bestand an Personenkraftfahrzeugen erreicht 1978 in der Bundesrepublik Deutschland mit rund 19,6 Mio. einen neuen Höchststand. Auf je 100 Einwohner kommen nunmehr 33 Pkw Zum Vergleich: Im Jahr 1960 waren es noch acht, 1970 22 Pkw pro Einwohner. 1978 werden insgesamt rund 2,985 Mio. Kraftfahrzeuge (Pkw Lkw Omnibusse) neu zugelassen gegenüber 2,854 Mio. im Vorjahr. Seit Anfang der 60er Jahre hat sich die Zahl der Pkw in der Bundesrepublik damit fast vervierfacht. Ein Ende oder ein Nachlassen des Auto-Booms ist nicht abzusehen, so dass bundesdeutsche Großstädte und Ballungsräume mit zunehmenden Verkehrsproblemen zu kämpfen haben.

Das Dauerthema Verkehrsplanung ist auch 1978 unter Politikern, Verkehrsexperten, Industrievertretern, Gewerkschaftern und Mitgliedern von Bürgerinitiativen heftig umstritten, ohne dass man sich auf eine grundlegende Neuorientierung einigen könnte. Der Vorrang für Auto und Straße bleibt bestehen, während Deutsche Bundesbahn und öffentliche Nahverkehrsbetriebe trotz ihrer offensichtlichen ökologischen Vorteile gegenüber dem ausufernden Individualverkehr ein eher stiefmütterliches da sein fristen.

Die Bundesbahn verliert beim gesamten Transportaufkommen – sowohl bei der Personenbeförderung als auch beim Gütertransport – ständig Anteile an Pkw und Lkw Das Defizit der Deutschen Bundesbahn steigt dementsprechend kontinuierlich an: 1977 betrug es 4,6 Mrd. DM gegenüber 2,78 Mrd. DM im Jahr 1974. Ein klares Sanierungskonzept für die krisengeschüttelte Bahn zu entwickeln, zeigt sich das Verkehrsministerium unter Kurt Gscheidle (SPD) trotz offenkundiger Dringlichkeit außerstande. Ein 1976 vorgelegter Plan, der eine deutliche Reduzierung des derzeit rund 22 000 km umfassenden Streckennetzes und drastische Einsparungen beim Personal vorsah, ist wieder in der Schublade verschwunden, nachdem die betroffenen Landräte, Gewerkschaftsvertreter und Unternehmer heftig protestiert hatten. Verkehrspolitik besteht nach Meinung von Kritikern derzeit im Wesentlichen in der Fortführung einer Politik, deren Weichenstellung in den 50er und 60er Jahren vorgenommen wurde.

Die Straßenbahn, einst die wichtigste Säule des öffentlichen Nahverkehrs, verschwindet mehr und mehr aus dem Erscheinungsbild der Städte. Mitte 1978 stellte in Hamburg die letzte Straßenbahn ihren Betrieb ein; auch in Neunkirchen (Saarland) muss die letzte Tram dem Autoverkehr weichen. Damit verkehrt in ganz Südwestdeutschland keine einzige Straßenbahn mehr.

Mehrere Großstädte sind in den 70er Jahren dazu übergegangen, den öffentlichen Nahverkehr ganz auf Busse und U-Bahnen umzustellen, oder mit hohem Kostenaufwand die Straßenbahnlinien im Innenstadtbereich unter die Erde zu verlegen, um Platz für den stark zunehmenden Autoverkehr zu schaffen.

Einer wachsenden Anzahl von Bundesbürgern erscheint angesichts verstopfter Straßen und verpesteter Luft in den Innenstädten das Fahrrad als eine sinnvolle Alternative zum Auto, zumindest auf kürzeren Strecken. Fahrradhersteller und -händler sehen Anzeichen für einen regelrechten Zweirad-Boom in der Bundesrepublik. 1978 besitzen bereits rund 28 Mio. Bundesbürger einen Drahtesel. Ein massenhaftes Umsteigen vom Auto auf das Fahrrad scheitert allerdings nicht zuletzt am eklatanten Mangel an Radwegen in den Städten. So verfügt beispielsweise Essen bei einem Straßennetz von 1309 km Länge lediglich über 98 km Radwege; in der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt Mainz gibt es bei 420 km Straßen gerade 8 km Radwege. Angesichts dieses Missverhältnisses nehmen 1978 die Stadtverwaltungen einiger Kommunen, darunter München, Essen und Köln, den forcierten Ausbau des von vielen Bürgern angemahnten Radwegnetzes in Angriff.

Chroniknet