Wende am Arbeitsmarkt?

Politik und Gesellschaft 1998:

Obwohl nach Einschätzung des Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit, Bernhard Jagoda, im Verlauf des Jahres 1998 auf dem deutschen Arbeitsmarkt eine positive Trendwende zu beobachten ist, bleibt die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ganz oben auf der Tagesordnung der dringlichen Aufgaben.

Mit 4,83 Mio. Erwerbslosen und einer Quote von 12,6% erreicht die Arbeitslosigkeit im Januar einen absoluten Höchststand (Januar 1997: 11,1%). Während in den neuen Bundesländern die Quoten in der ersten Jahreshälfte weiter über denen des Vorjahres liegen, ist der Beschäftigungsabbau in den alten Ländern bereits zum Jahresende 1997 zum Stillstand gekommen. Im September liegt die gesamtdeutsche Zahl der Arbeitslosen dann erstmals seit knapp zwei Jahren unter 4 Mio. Im Jahresdurchschnitt sind 4,27 Mio. Menschen arbeitslos gemeldet – ein Wert, der unter den Prognosen sämtlicher Wirtschaftsforschungsinstitute liegt. Für 1999 wird mit einem weiteren Rückgang der Arbeitslosenzahlen um bis zu 200 000 gerechnet.

Während die am 27. September abgewählten Parteien CDU/CSU und FDP die Trendwende mit ihrer Sozialgesetzgebung in Zusammenhang bringen, bleiben die Parteien der neuen Bundesregierung, SPD und Bündnis 90/Grüne, und insbesondere der neue Bundesfinanzminister Oskar Lafontaine (SPD) dabei, dass diese Spargesetze eher kontraproduktiv gewesen seien, da sie zu einer Schwächung der Binnennachfrage geführt hätten. Mehrere dieser Gesetze nimmt die Bundesregierung wieder zurück: So gilt der Kündigungsschutz nun wieder in allen Betrieben ab fünf (zuvor: zehn) Beschäftigten, und die volle Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wird wieder eingeführt. Außerdem wird ein Millionenprogramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit aufgelegt. Nachdem die Wirtschaftssachverständigen der Bundesregierung vorgeworfen haben, von ihren Steuerreformplänen gingen keine Beschäftigungsimpulse aus, erklärt Lafontaine, die Reform verfolge auch nicht dieses Ziel, sondern solle vorrangig die Steuergerechtigkeit verbessern.

Bei einem weiteren sozialpolitischen Wahlkampfthema, der Eindämmung der geringfügigen Beschäftigung (620/520-DM-Jobs), erwägt die neue Bundesregierung die Abschaffung der vom Arbeitgeber zu zahlenden Steuerpauschale von 20% zugunsten von Sozialversicherungsbeiträgen. Überlegungen zur Einführung eines Kombilohnes, also eines Einkommens, das sich aus Niedriglohn und Sozialhilfe zusammensetzt und – durch geringere Anrechnung von Zuverdiensten auf die Unterstützungsleistung – Sozialhilfeempfängern einen Anreiz zur Aufnahme von Arbeit bieten soll, werden von Sozialdemokraten und Gewerkschaften, Unionsparteien und Arbeitgeberverbänden zwar generell begrüßt, konsensfähige Modelle liegen jedoch noch nicht vor.

Für viel Aufregung sorgt während der Erntezeit die Anordnung des alten Bundesarbeitsministers Norbert Blüm (CDU), die Zahl ausländischer Saisonarbeiter zu begrenzen und die Betriebe stattdessen zu verpflichten, deutsche Erwerbslose einzustellen. Insbesondere Spargel- und Obstbauern klagen, dass die »zwangsverpflichteten« Arbeitslosen wenig motiviert und unzuverlässig seien.

Für die Tarifrunde 1998/99 kündigen die Gewerkschaften ein »Ende der Bescheidenheit« an. Die IG Metall geht mit einer Lohnforderung von 6,5% in die Verhandlungsrunde. In der Metall- und Elektroindustrie soll es 1999, wie Arbeitgeber- und Gewerkschaftsvertreter in einem Spitzengespräch im September 1998 vereinbaren, erstmals eine gemeinsame Lohnrunde für Ost- und Westdeutschland geben. Die westdeutschen Lohnabschlüsse sollen mit einem Monat Verzögerung für die ostdeutschen Beschäftigten übernommen werden.

Chroniknet