Nicht nur das Kleid bestimmt den Chic

Nicht nur das Kleid bestimmt den Chic
Modell Maison Wallis, Paris, Foto Reutlinger 1901. [Public domain], via Wikimedia Commons

Mode 1901:

Modell Maison Wallis, Paris, Foto Reutlinger 1901. [Public domain], via Wikimedia Commons

Modell Maison Wallis, Paris, Foto Reutlinger 1901. [Public domain], via Wikimedia Commons

Die oft gestellte Frage »Was ist Chic?« beantwortet das Frühjahrsheft von »Das Blatt der Hausfrau. Zeitschrift für die Angelegenheiten des Haushaltes sowie für Mode, Kindergarderobe, Wäsche und Handarbeiten« wie folgt: »Große Eleganz und Kostbarkeit des Anzuges gehören überhaupt nicht zum Chic, denn sie haben etwas Schweres, Gediegenes an sich. Unser Chic ist flott, leicht, hängt weniger vom Wertvollen ab als von der Form und Farbe. Chic ist eine Betonung des herrschenden Modecharakters in jedem Teile des Anzuges. Nicht das Kleid allein bestimmt den Chic, sondern mindestens ebensoviel der Hut und die Frisur.«

Chic ist in diesem Jahr die Sans-Ventre-Linie (»Linie ohne Bauch«), jene Mode, dem das Korsett den Namen gab. Dem weiblichen Wunsch nach Schlankheit nachkommend ist es die Aufgabe des Korsetts, den Bauch hineinzupressen, dafür aber den Oberkörper und das Gesäß hinaus. Dadurch entsteht die gewünschte »Linie ohne Bauch«, die der Trägerin von der Seite her gesehen eine elegant geschwungene Haltung gibt. Unterstützt wird sie durch ein am Kleideroberteil vorne überhängendes Volant oder ein separates Bolerojäckchen und durch die unterhalb des Gesäßes fächerförmig heraustretende Schleppe. Die Sans-Ventre-Linie passt aufs Vollkommenste zum dekorativen Jugendstil, dessen Wellen-, Peitschenschlag- und Blumenornamentik in Paspelierungen und Stickereien auf den Kleidern die gesamte Linie unterstreichen. »Rock und Taille oder Bluse voneinander abstechend zu nehmen, gilt auch für die Herbstsaison noch als besonders modern. Der Zusammenstellung von Weiß und Schwarz wird eine neue Glanzperiode prophezeit. Daneben gelten Grau mit Rot, Braun mit Ecru, auch Blau mit Grün als hervorragend moderne Zusammenstellungen.« Üppiger Aufputz mit Stickerei- und Tüll-Einsätzen sowie ganze Spitzenkleider sind sehr beliebt.

Zur S-Linie passt das in kühn geschwungenen, ondulierten Wellen hochgesteckte Haar, das für den Abend von einem dekorativen Schildpattkamm gehalten, am Tage jedoch von einem Hut bedeckt wird. Die flachen Hüte sind reich mit Kunstblumen garniert und ihre Krempe ist leicht geschwungen; sie sehen etwas schräg aufgesetzt am attraktivsten aus.

Ein ganz anderes Ziel als das hochmodische, aber gesundheitsschädliche Sans-Ventre verfolgt das sogenannte Reformkleid. Der Reformkleidbewegung gehören Ärzte, Künstler und Frauenrechtlerinnen an. Sie haben sich zur Aufgabe gemacht, die gesamte Frauenkleidung und die unnatürliche Einschnürung zu reformieren. Demnach soll das Reformkleid lose von den Schultern herabhängen und auf jegliche Taillierung verzichten. Brustleibchen, Hüftgürtel und Unterhose oder eine Hemdhose dienen als Unterkleidung. Wiederholte Ausstellungen verfolgen den Zweck, die Idee der Reformkleidung in die breite Öffentlichkeit zu bringen. So zeigt man in der »Internationalen Kunstausstellung Dresden 1901« in der Abteilung »Frauenkleider nach Künstlerentwürfen« sieben Modelle. Ebenso sind Kunstgewerbler mit Kleidern an der Leipziger Ausstellung des »Allgemeinen Vereins für Verbesserung der Frauenkleidung« im September in den oberen Räumen des Kristallpalastes beteiligt. Die berühmtesten Künstler, die sich dem Reformkleid widmen, sind Henry van de Velde, Bernhard Pankok und Richard Riemerschmied. Dennoch findet das Reformkleid kaum Anhängerinnen bei den Damen der Gesellschaft. Höchstens die »Robes d’Intérieur« dürfen einen etwas lockeren Schnitt mit vom Rücken weg eingelegten Falten aufweisen.

Eine Jungmädchen-Welle, die in den USA die Gemüter bewegt, findet auch in Europa am Rande Beachtung. Es sind die sportlichen, emanzipierten Gibson Girls mit Puffärmelbluse, Ascotschleife und knöchellangem Glockenrock, die der US-Zeichner Charles Dana Gibson prägte.

Ein Problem bewegt die Damenwelt auch 1901, jenes des »Nichts anzuziehen!«. Dazu gibt »Das Blatt der Hausfrau« folgenden Rat: »Man braucht durchaus keine zwei Straßenkleiderzum Wechseln. Die Großstädterin hat ein Straßenkleid, meistens ein Kostüm, Rock und Jackett, und wenn dies abgetragen ist, kommt ein neues. Dabei vermeidet sie das Anhäufen von einem halben Dutzend unmoderner Kleider – wie dies der Kleinstädterin recht häufig passiert -, ist immer elegant und der Kostenpunkt ist derselbe.«

Die Modezeitschriften nehmen immer mehr eine geschmacksbildende Stellung ein. In diesem Jahr kommen neu heraus »Les Modes. Revue mensuelle illustrée des Arts Décoratifs appliqués à la Femme« sowie »Fémina«, beide auch mit künstlerischen Modefotos.

Die Herren führen keineswegs ein modisches Schattendasein. Ihre Anzugpalette reicht vom Jackettanzug, Gehrock, Cut und Smoking bis zum Frack. Je nach Anlass werden diese von mehr oder weniger elegant ausgeführten Mänteln, wie Paletots und Havelocks bis zum sportlichen Ulster, begleitet. Es versteht sich von selbst, dass auch die Kopfbedeckungen, weicher Filzhut, Bowler oder Zylinder, genau vorgeschrieben sind. Nur im intimen häuslichen Kreis darf es sich der Herr im Hausmantel oder in der Hausjacke aus Kaschmirstoff mit seidenem Steppkragen und Knebelverschlüssen bequem machen. Die Dame des Hauses wird sich auch die Geschenke für den Gatten überlegen: »Prächtige Jagdanzüge, spezielle Joppen mit leichtem Waschlederfutter für den Anstand, Offizierswesten, ganz mit dünnem Waschleder gefüttert. Regenmäntel und weite schicke Raglan-Paletots fürs Frühjahr. Lawn-Tennis-Anzüge und natürlich Radleranzüge (mäßig weite Knickerbocker und loses, ziemlich hochgeschlossenes Jackett). Die liebende Gattin, die ihrem Manne solch ein Geschenk macht, schlägt gleich zwei Fliegen mit einer Klappe, sie erfreut ihren Mann und weiß ihn zugleich nach ihrem Geschmack gekleidet.«

Chroniknet