Internationale Bündnisse bereiten kommende Schlachten vor

Internationale Bündnisse bereiten kommende Schlachten vor
Theodore Roosevelt, Fotoporträt der Pach Brothers (1904), By Pach Brothers [Public domain], via Wikimedia Commons

Politik und Gesellschaft 1902:

»Stille vor dem Sturm« – so nennt der Historiker Michael Freund eine Arbeit über das Jahr 1902. Er charakterisiert damit treffend, dass diese Zeit bei allem Anschein äußerer Stabilität schon den Keim jener Widersprüche in sich birgt, die einmal für den Untergang einer ganzen Epoche sorgen werden. Gut ein Jahrzehnt später wird die scheinbar so festgefügte Ordnung in der Katastrophe des Ersten Weltkriegs auseinanderbrechen. Zunächst jedoch präsentiert sie sich im unerschütterlichen Glauben an eine große Zukunft. 41 Jahre nach der Reichsgründung fühlt sich der deutsche Kaiser stark genug, die Realisierung seiner Weltmachtpläne gezielt voranzutreiben. Im Vordergrund der deutschen Politik steht das Bestreben, die überseeischen Einflussgebiete auszuweiten – eine Entwicklung, die Großbritannien und Frankreich bereits in viel größerem Maßstab vollzogen haben. Der mit dem Friedensvertrag von Vereeniging im Mai besiegelte Sieg im Burenkrieg bedeutet für Großbritannien eine erneute Vergrößerung seines Kolonialreiches in Südafrika; die Expansionsgelüste der wilhelminischen Regierung bekommen damit neue Nahrung. Deutschlands koloniale Wünsche richten sich, wie die seiner Rivalen, auf Afrika und Asien; dem Vordringen in die ebenfalls attraktiven Siedlungsgebiete Süd- und Mittelamerikas versperrt die von US-Präsident Theodore Roosevelt vertretene Monroe-Doktrin, die auf einer strikten Trennung von Alter und Neuer Welt beharrt, den Weg. Die deutlich zutage tretende Konkurrenz der Staaten bei der Sicherung ihrer Einflusssphären forciert den Ausbau internationaler Bündnissysteme: Im Februar schließen Japan und Großbritannien vor dem Hintergrund massiver Aktivitäten des russischen Zarenreiches in der Mandschurei sowie in Vorderasien einen Vertrag zur Sicherung ihrer jeweiligen Interessen, im Mai bekräftigen Russland und Frankreich beim Besuch des französischen Staatspräsidenten Émile Loubet in Petersburg ihre freundschaftlichen Beziehungen, und im Juni erneuern das Deutsche Reich, Österreich-Ungarn und Italien den Dreibund – angesichts interner Rivalitäten auf dem Balkan und in Nordafrika allerdings nicht reibungslos. Da man sich in London in der Bündnisfrage noch nicht entschieden hat, beobachten die Regierungen in Petersburg und Berlin argwöhnisch, ob eine engere Bindung der jeweils anderen Seite an den Inselstaat entsteht.

Chroniknet