Bildung 1902:
Die Bildungspolitik im Deutschen Reich, jeweils den Ministerien der einzelnen Bundesstaaten unterstehend, ist bestimmt von den erhöhten Anforderungen in Wissenschaft und Technik. Es gilt, Schul- und Hochschulwesen den Bedürfnissen der Industrie anzupassen. Von staatlicher Seite aus konzentriert man sich hier im Wesentlichen auf die Qualifizierung der höheren Bildungsanstalten, ungeachtet der Kritik linksliberaler und sozialdemokratischer Kreise an den z. T. katastrophalen Zuständen in den Volksschulen. Diese Einrichtung, die immerhin von 91% der schulpflichtigen Kinder im Alter von sechs bis 14 Jahren besucht wird, soll, wie es offiziell heißt, »die Menschen tüchtig fürs Leben machen«. Und das geschieht oftmals in Klassen mit bis zu 70 Schülern, wo z. B. vier Wochenstunden in Religion zwei in Naturkunde gegenüberstehen.
Das weitgehende Desinteresse der Behörden an einer Verbesserung von Rahmenbedingungen und Unterrichtsinhalten gilt insbesondere für die Mädchenbildung, für die sich die Frauenverbände einsetzen. U. a. verlangen sie eine Eingliederung der höheren Mädchenschulen in das öffentliche Bildungswesen, denn von den bestehenden sind nur etwa 30% öffentlich und die übrigen Kloster- oder Privatschulen. Trotz geringer staatlicher Maßnahmen in dem Bereich ist die Zahl der weiblichen Studenten an deutschen Universitäten steigend, allein in Berlin schreiben sich im Wintersemester 1901/02 611 Frauen ein; im Sommersemester des Vorjahres waren es dagegen nur 318.
Das Interesse des preußischen Unterrichtsministeriums gilt vorrangig der Realisierung einer im November 1900 verfügten Gleichstellung der höheren Knabenschulen, in deren Folge Abschlüsse von Gymnasium, Realgymnasium und Oberrealschule als Zugangsberechtigung für alle Studiengänge anerkannt werden. Die somit erfolgte Aufwertung der Realschulen ist ein Zugeständnis an die Veränderungen in Wirtschaft, Handel und Industrie.
Da an den Realschulen naturwissenschaftliche Fächer und neue Sprachen im Vordergrund stehen, berechtigte ihr Abschluss bisher lediglich zum Besuch Technischer Hoch- und Fachschulen. Ein Großteil der bessergestellten und auf gesellschaftliches Ansehen orientierten Familien schickten wegen dieser von vornherein eingeschränkten Möglichkeiten ihre Söhne auf das Gymnasium. Mit der Aufgabe des Privilegs für diese Einrichtungen mit dem Primat von Altgriechisch und Latein ist nun die Voraussetzung für eine breitere, an der Praxis orientierte Schulbildung geschaffen.
Die neuen Aufnahmebedingungen an den Universitäten erzwingen zugleich Veränderungen innerhalb der einzelnen Studiengänge. Erwogen werden Vorkurse und auch geringere Ansprüche im altsprachlichen Bereich. Die dem preußischen Abgeordnetenhaus im Januar vorgelegte Reform des Jurastudiums sieht u. a. die Einführung einer Zwischenprüfung vor, auf die sich Realschulabiturienten in gesonderten Lehrveranstaltungen vorbereiten.
Die Kehrseite solcher Veränderungen innerhalb der höheren Lehranstalten ist ein noch stärkerer allgemeiner Leistungsdruck, Folge eines verkrusteten Lehr- und Paukbetriebs. Immer mehr Pädagogen suchen nach Alternativen. Reformbestrebungen wie die Arbeitsschul- und Kunsterziehungsbewegungen oder auch die Landerziehungsheime von Hermann Lietz (1898 in Ilsenburg, 1901 in Haubinda) finden Zuspruch bei aufgeschlossenen Eltern und Lehrern. Auf großes Interesse stoßen die theoretischen Werke zu dieser Thematik: Das 1902 erstmals auf deutsch erscheinende Buch »Das Jahrhundert des Kindes« der Schwedin Ellen Key, worin die Autorin eine naturgemäße Erziehung ohne Zwang, »vom Kind aus«, fordert, und die Schrift »Der Deutsche und sein Vaterland« des Berliner Gymnasiallehrers Ludwig Gurlitt. Er gilt als Vertreter einer extremen Individualpädagogik.