Protest gegen »Fleischnot«

Ernährung, Essen und Trinken 1902:

Die Ernährungslage breiter Bevölkerungskreise ist zu Beginn des Jahrhunderts äußerst unbefriedigend. Die Einkünfte der meisten Arbeiterfamilien sichern knapp das Existenzminimum, und so haben sie besonders unter den Preissteigerungen zu leiden, die eine Folge der seit 1900 andauernden Wirtschaftskrise sind. Wohlfahrtsvereine versuchen zwar durch die Einrichtung von Suppenküchen oder auch preiswerten Gaststuben Abhilfe zu schaffen, doch mangelt es vor allem an nährstoff- und vitaminreichem Essen. Eine wachsende Anfälligkeit für Krankheiten ist die Folge.

Im Gegensatz dazu steht ein breites Angebot an Lebens- und Genussmitteln von hoher Qualität, letztlich ermöglicht durch die Ausbeutung der Kolonien. Eine reich gedeckte Tafel wird daher auch im mittleren Bürgertum immer wichtiger – zumindest, wenn es um Repräsentation gegenüber Gästen geht. Im täglichen Essen der Familie ist eher Bescheidenheit die Regel; Honig und Butter auf dem Brötchen gelten schon als Luxus. Genüsse im Alltag sind die Ausnahme, und so empfiehlt eine Frauenzeitschrift als Trick zum Einsparen des teuren Kaffees, den gemahlenen Bohnen einen Teelöffel doppelkohlensaures Natron zuzusetzen, wodurch das Pulver besser ausgelaugt werde und man etwa ein Drittel weniger brauche.

In den aktuellen Diskussionen zum Thema Ernährung steht an erster Stelle die »Fleischnot«. Überall im Deutschen Reich kommt es zu Protestaktionen von Verbrauchern gegen die ständig steigenden Preise von Fleisch- und Wurstwaren. Ursache der schlechten Versorgungslage hauptsächlich beim Schweinefleisch sind seit 1895 bestehende Importbeschränkungen für Schlacht- und lebendes Vieh. Sie wirken sich z. Z. besonders negativ aus. Als der Fleischkonsum vor allem bei den Einkommensschwachen stark zurückgegangen war, hatten die Landwirte ihre Viehproduktion gedrosselt. Mit dem Argument, das Einschleppen von Seuchen verhindern zu müssen, verweigert die Regierung dennoch eine Lockerung des Einfuhrverbots und bedient somit vorrangig die ökonomischen Interessen der Landwirte, die aus der Fleischteuerung erheblichen finanziellen Vorteil ziehen.

Diese Haltung stößt auch auf Kritik bei Gesundheitsbehörden, denn Fleisch ist nach allgemeiner medizinischer Ansicht eines der wichtigsten Nahrungsmittel für den Menschen. In Ratschlägen für gesunde Ernährung wird zwar auch auf die Wichtigkeit von Obst und Gemüse verwiesen, doch verkennt man ihre tatsächliche Bedeutung für den Organismus. Da Existenz und Wirkung von Vitaminen von der Wissenschaft noch nicht erforscht sind, erwähnt man zwar den Einfluss von Früchten auf die Verdauung, warnt aber zugleich vor einer Überschätzung des Nährwerts. Zudem empfiehlt man aus Gründen der Hygiene das Abkochen, da man der Meinung ist, dass der diätetische Wert dabei nicht verlorengehe.

Erziehung zur Lebensmittelhygiene ist Teil der Ernährungsaufklärung. Dabei geht es u. a. um das Abwaschen von Obst vor dem Verzehr, das Abkochen der Milch und um Hinweise für richtige Konservierung, bei der sich dank neuer Techniken die Kühlung immer stärker durchsetzt. Da die Einrichtung von Kühlkammern für den Kleinhandel meist noch zu teuer ist, entstehen in Großstädten moderne Kühlhäuser, wo die Artikel bis unmittelbar vor dem Verkauf gelagert werden.

Ein weiteres Thema ist der Kampf gegen den Alkoholismus. Die Forderungen der Abstinenzler-Organisationen reichen hier bis zum absoluten Verbot. Der Reichstag berät einen Gesetzentwurf über eine Gasthausreform, deren Ziel die Kontrolle aller gastronomischen Einrichtungen ist. Konzessionen sollen nur noch an verantwortungsvolle Personen vergeben werden. Außerdem ist vorgesehen, nur eine Gaststätte auf 500 Einwohner zuzulassen. In Berlin bedeutete dies eine Reduzierung von gegenwärtig 19 000 auf 4000.

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