Mode 1902:
Die Sans-Ventre-Linie ist international. Es ist jene Mode, von der sich die Damen der Gesellschaft eine schlanke Silhouette versprechen und dafür jedes, auch gesundheitsschädigende, Opfer zu bringen bereit sind.
Die »Linie ohne Bauch« hat ihren Namen von dem Sans-Ventre-Korsett, das den Bauch vollkommen wegschnürt, dafür jedoch die Brust hervorhebt und das Gesäß nach rückwärts drückt. Es verleiht den Damen eine von der Seite gesehen S-förmige Haltung, die sehr mondän ist. Die Steifheit des Korsetts wird durch den hohen, zuweilen mit Fischbeinstäben abgesteiften Stehkragen, die langen, schmalen Ärmel der Kleider sowie durch die üppigen Schleppen unterstrichen.
Die Kleidmaterialien, Musselin, Crèpe Duchesse, Tüll und Spitzen sind kaum für die Ewigkeit gemacht. Damit soll gezeigt werden, das es die Dame der Hautevolee nicht nötig hat, irgendwelche körperliche Tätigkeit zu verrichten. Beim Spaziergang, während des Korsos, wird die Schleppe beim Gehen nach vorne gerafft und mittels einer am Saum angenähten Schlaufe, durch die der Mittelfinger gesteckt wird, gehalten.
Außerdem erlaubt das Korsett nur, sich in leicht vorgeneigter Körperhaltung hinzusetzen. Auf den Fotos posieren die Damen in einer verdrehten Körperhaltung, um jene dem Jugendstil eigene Form der Spirale zu vermitteln. Mode, Schmuck und Innendekor entspringen dem gleichen dekorativen Stil. Die begehrten Toiletten von Doeuillet, Paquin, Redfern oder Armand sind nur adeligen Damen oder berühmten Bühnenstars vorbehalten.
Großer Wert wird auf dem Anlass entsprechende Roben und Mäntel gelegt: Man spricht in der französischen Modesprache von der Robe de Jour, Robe de Ville, Robe de Réceptions oder Robe d’Opéra sowie vom Manteau de Visite oder Manteau du Soir.
Tagesmäntel sind auf Figur gearbeitet und höchstens knielang, während die eleganten Abendmäntel knöchellang und weit sowie mit Volants, Spitzeneinsätzen, Stickereien oder zartem Pelzbesatz üppig verziert sind.
Allen selbst schneidernden Damen gibt »Das Blatt der Hausfrau« den wohlmeinenden Rat: »Als Gesellschaftskleid wird wohl für jede Frau das mit Recht so beliebteSchwarzseidene infrage kommen. Billige Seide ist immer die teuerste. Sie bricht, reißt und schleißt. Aber wer in der Lage ist, für den Meter sechs Mark anzulegen oder gar sieben, der hat wirklich ein Kleid für die Ewigkeit.«
Unerlässliche Accessoires sind Hut, Fächer, Sonnenschirm und schwarze Spitzenhandschuhe. Die Hüte sind flach, mit asymmetrisch gewellter Krempe und reich mit Kunstblumen garniert. Sie dürfen nur leicht auf der locker hochgesteckten Frisur schweben und werden mit einer Hutnadel gehalten. Die Pariser Hutsalons von Reboux, Labbé oder Alphonsine sind weltweit bekannt.
Als Kritik an der herrschenden Mode und insbesondere am Festhalten engstgeschnürter Korsetts versteht sich die Reformkleidbewegung, die bereits seit einigen Jahren aktiv ist. Ihr gehören Mediziner, Künstler und Frauenrechtlerinnen an. Sie plädieren für lose hängende, untaillierte Kleider, deren Gewicht nur von den Schultern getragen wird. Renommierte zeitgenössische Künstler wie Henry van de Velde, Peter Behrens, Richard Riemerschmid, Alfred Mohrbutter, Bernhard Pankok, Joseph Maria Olbrich und Hermann und Anna Muthesius entwerfen Kleider aus besten Samt- und Wollstoffen, mit Jugendstil-Ornamentik verziert.
Immer wieder wird durch Ausstellungen versucht, eine breite Öffentlichkeit zur Mitarbeit an der Neugestaltung der Frauenkleidung zu gewinnen. So wird am 1. Oktober 1902 die »Ausstellung Deutscher Künstlerischer Frauenkleider« in der »Wiesbadener Gesellschaft für Bildende Künste« in Wiesbaden eröffnet. Aber die meisten Bestrebungen bleiben im Ästhetizismus stecken. Die langschleppenden Kleider werden kaum einer arbeitenden Frau des unteren Mittelstands gerecht, und von den Damen der Gesellschaft werden sie dennoch als »hässlicher Reformsack« abgetan, obwohl man sie, um weniger »medizinisch« zu klingen, auch Teekleider nennt. Ihr »Darunter« ist kaum attraktiver, besteht es doch aus einem einfachen Reformleibchen, einer Hemdhose und einem Reformgürtel.
Der Herr nimmt regen Anteil an der Mode. »Die Elegante Herren-Mode« stellt zweimal im Jahr ein komplettes neues Saisonbild für die aktuelle Herrenmode vor. Sie beginnt stets mit der Abend- und Gesellschaftskleidung. »Für den Frack werden die seidene Shawlfacon und durchgenähte Kanten bevorzugt. Der Smoking ist kürzer gehalten als das Sakko und hat bei normaler Größe eine Länge von 72 bis 73 cm. Als Westen, wo die zweireihige Form immer noch dominierend ist, werden dunkle oder weiße Seidenwesten mit Streifen oder Punkten sich größter Beliebtheit erfreuen. Die Hosen werden durchweg eng getragen. An elegantem Mantel hat sich der Inverness bei jüngeren Leuten sehr eingeführt, bei dem sowohl die Taille als auch die Pelerine mit Seide bis zur Kante gefüttert sind. Der Kragen ist Samt.«
Bei den Sakkos sind einreihige und zweireihige Formen gleich beliebt. Von dickeren Herren wird der einreihige, knielange Gehrock bevorzugt, der selten geschlossen getragen wird. Dazu gehören die seidene Weste und die gestreifte Hose. Bei den Mänteln steht natürlich der Paletot in seinen verschiedenen Ausführungen an erster Stelle. Der Reise- und Sportpaletot in einreihiger, längerer Form »für Automobilisten oder auch für Geschäftsreisende ist heute ein bekannter Typus geworden«. Daneben gibt es den bequemen Raglan, der aus weichem Stoff wie Fischgräten-dessiniertem Cheviot sein soll, sowie den Winterpaletot aus dunklem, glattem Eskimo.
Als Accessoires zählen beim Herrn Stecktuch und Spazierstock.