Die Zukunft wird sachlich

Architektur 1904:

Nur zaghaft setzen sich neue Richtungen in der Architektur durch. Bei den öffentlichen Bauten, die das Ansehen und die Macht des Wilhelminischen Deutschland repräsentieren sollen, dominieren die »Neo-Stile«. So ähnelt das am 16. Januar eingeweihte preußische Herrenhaus einer absolutistischen Schlossanlage. Städtische Rathäuser, wie das neue Bielefelder Rathaus, werden mit Vorliebe im Renaissancestil errichtet. Von dieser »historisierenden« Bauweise setzen sich Jugendstilarchitektur und sog. Moderne ab.

Für die zweite Ausstellung der Künstlerkolonie in Darmstadt, die am 15. Juli beginnt, entwirft der Jugendstil-Architekt Joseph Maria Olbrich drei Wohnhäuser. Die künstlerisch durchgestalteten Gebäude sollen die verschiedenen individuellen Möglichkeiten des Wohnens aufzeigen. Die Einflüsse des Jugendstils auf die Industriearchitektur zeigt die nach sechsjähriger Bauzeit fertiggestellte Zeche Zollern 2/4 in Bövinghausen bei Dortmund. Einzelne Gebäude der Anlage, wie die Lohnhalle und das Pförtnerhaus, tragen noch den »traditionellen« neogotischen Stil. Die Maschinenhalle der Musterzeche wurde dagegen von Reinhold Krohn als moderner Stahlfachwerkbau konstruiert und von dem Architekten Bruno Möhring behutsam mit Jugendstilelementen ausgestattet.

Neben der vom Jugendstil geprägten Architektur gewinnt die sog. Moderne zunehmend an Bedeutung. Zu ihren wichtigen Vertretern zählt der Berliner Alfred Messel, dessen 1904 fertiggestellter Erweiterungsbau des Kaufhauses Wertheim zu den Höhepunkten dieser Richtung zählt. Einer der schärfsten Kritiker jeder Dekoration, Adolf Loos, errichtet 1904 in Montreux sein erstes Haus. Am 11. Juli beginnen die Bauarbeiten für das Postsparkassengebäude in Wien, das nach Plänen von Otto Wagner errichtet wird (1906 vollendet). Durch den Verzicht auf Ornamentik und seine lichte Weite, die durch Einbeziehung von Stahl und Glas erreicht wird, gilt das Gebäude des österreichischen Architekten als ein Hauptwerk moderner Architektur.

Schon weiter auf dem Weg zu einer funktionalen Bauweise ist man in den USA. Vertreter der sog. Chicagoer Schule, wie Louis Henry Sullivan oder sein Schüler Frank Lloyd Wright, befreien die Architektur von allem Überflüssigen. Das von Wright 1904 in Buffalo im US-Bundesstaat New York fertiggestellte Larkin Building erscheint von außen als monumentales Prisma. Das Gebäude ist ganz nach innen auf einen zentralen Großraum orientiert, der durch ein Glasdach Licht erhält. Das Larkin Building gehört zu den ersten mit einer Klimaanlage ausgerüsteten Bürogebäuden.

Wichtig für die künftige Entwicklung eines an Sachlichkeit und Klarheit orientierten Stils in Deutschland ist die Tätigkeit des Architekten und Baubeamten Hermann Muthesius. Er war von 1896 bis 1903 Referent für Architektur an der deutschen Botschaft in London. Durch seine Vorträge und Bücher (»Das englische Haus«, 1904) trägt er in Deutschland entscheidend zur Verbreitung des englischen »Landhausstils« bei.

Ebenfalls aus Großbritannien kommen die Anregungen der sog. Gartenstadtbewegung. Die von Ebenezer Howard ins Leben gerufene Bewegung tritt für eine großflächige, in Grünanlagen eingebettete Siedlungsform ein. Die deutsche Gartenstadtgesellschaft, 1902 gegründet, geht im Oktober auf dem Wohnungskongress in Frankfurt erstmals mit ihren Vorstellungen an die Öffentlichkeit. Mit der Stadt der Zukunft beschäftigt sich der französische Architekt und Sozialist Tony Garnier. In seinen 1904 abgeschlossenen Plänen entwirft er eine moderne Industriestadt aus Beton, Eisen und Stahl, in der die Bereiche Arbeiten und Wohnen getrennt sind. Anknüpfend an die Ideen der Gartenstadtbewegung, ist für Garnier die zukünftige Stadt bestimmt durch eine offene Bauweise, in der die Bewohner genügend Luft und Sonne erhalten.

Chroniknet