Hinaus in die freie Natur!

Urlaub und Freizeit 1906:

Der Großteil der Bevölkerung kennt keinen Urlaub. Auch mit »Freizeit« sieht es bei den meisten schlecht aus: Die tägliche Arbeitszeit liegt bei 10 bis 14 Stunden, der Sonntag ist der einzige arbeitsfreie Tag. In Belgien und Frankreich wird die Sechstagewoche erst in diesem Jahr gesetzlich eingeführt.

An den Sonntagen strömen die Menschen hinaus ins Grüne – nicht zu weit, denn dieser einzige freie Tag dient auch der Erholung von der Plackerei an den übrigen sechs Tagen. An diesen Sonntagen erobern z. B. die Berliner Arbeiterfamilien den nahe gelegenen Wannsee als Badeparadies.

Eine Art Reiseersatz bieten die sog. Panoramen, in denen den Daheimgebliebenen filmische Reisen in nahe und ferne Länder angeboten werden. Hoch im Kurs stehen dabei Naturreisen. »Die interessanten Optischen Reisen im Kaiser-Panorama [in Berlin] erfreuen sich eines ganz außerordentlichen Zuspruchs«, meldet die »Welt am Montag« in ihrer Ausgabe vom 6. August: »Namentlich sind in den Nachmittag- und Abendstunden die Plätze oft ausverkauft, so daß man zu warten genötigt ist. Neben der ersten Reise am Gardasee gelangt eine neue Wanderung in Tirol von den Ötztaler zu den Ortler Alpen für diese Woche zur Vorführung, auf welche wir alle Naturfreunde aufmerksam machen, zumal hier das Reisen so sehr bequem und billig ist.«

Natur ist ein Zauberwort für die meisten. An erster Stelle rangieren Campingurlaube und Bergtouren. Die Alpinistin Sophie von Khuenberg geht dieser Modeerscheinung in der Zeitschrift »Die Woche« nach: »Das Alpinistentum hat einen ganz neuen Industriezweig gezeitigt, der es jedem ermöglicht, sich zweckentsprechend auszurüsten, und so kann man, wenn man heute zu Berge steigt, dies eigentlich mit viel mehr Sicherheit und Ruhe tun als jemals zuvor. Überall stehen Schutzhütten, alle Wege und Steige sind tadellos markiert, zu großen Hochtouren stehen erprobte Führer bereit, und trotz alledem fordert der Bergsport unaufhörlich Opfer um Opfer. Der Bergsport – das ist es eben. Es ist schon zu viel Mode und zu wenig ernste Innerlichkeit dabei im Spiel … Seit der Bergsport Mode ist, üben ihn nicht nur Berufene, die in innigem Ringen mit der Bergwelt ihre trotzigen Tücken erkannt und sich siegreich an ihre stolze Schönheit emporgeschmeichelt haben – nein, die Hochtouristik ist eine Allerweltssache geworden. Jeder Naturfreund, jeder harmlose Spaziergänger hält sich für fähig und berechtigt, Felswände zu erklimmen, in Kamine einzusteigen und Gletscherfelder zu überschreiten. Die Ungenügsamkeit der modernen Menschen, denen nichts mehr gut genug, nichts mehr rasch genug ist, hat sich auch da ins Maßlose verstiegen …«

Von dieser Modeerscheinung distanziert sich der 1901 gegründete »Wandervogel«, von dem sich 1904 der »Alt-Wandervogel« abgespalten hat. Mit dem Wort »Lebensnot« beschreiben die Wandervögel das Entstehen ihrer Bewegung: Auf Industrialisierung und Imperialismus, auf Verbürgerlichung und Militarismus in einer von sozialen Gegensätzen geprägten Leistungsgesellschaft reagieren sie mit einer als »unbürgerlich« verstandenen Flucht in die Natur und zu den Quellen deutschen Volkstums. Diese Bewegung wird nicht von Erwachsenen organisiert, sondern von Jugendlichen. Die Wandervogelbewegung ist Protest gegen den Zeitgeist und der Versuch, ein natürliches und sinnvolles Leben zu gestalten, das auch das Erleben der Heimat einschließt. Die »Gemeinschaft« hat einen hohen Stellenwert (Gruppenfahrten, Ting und Konvent, gemeinsame Sonnwendfeiern, Weihnachtsfest im Wald usw.), deutsches Kulturgut soll wiedererweckt werden (Volksliederbücher, Volkstanz, Streben nach »Echtheit« in Kultur, Hausrat, Kleidung und Lebensstil als »Ausdruckskultur«). Übernachtet wird in Dorfgasthäusern, Scheunen oder Zelten.

Chroniknet