Politik und Gesellschaft 1908:
Weit mehr als die großen außenpolitischen Ereignisse des Jahres 1908, wie die jungtürkische Revolution, die Machtkämpfe in Marokko und Persien oder der Thronwechsel in China, erregt die Zerstörung des Zeppelin-Luftschiffs »LZ 4« die deutsche Öffentlichkeit. Hugo von Hofmannsthal vergleicht »diese von keiner Fantasie zu überbietende Verbindung von Triumph und Katastrophe« mit den Tragödien Shakespeares. Und Kaiser Wilhelm stilisiert den Grafen Zeppelin zum »größten Deutschen des Jahrhunderts«.
Die Zerstörung von »LZ 4« kann das Vertrauen in den technischen Fortschritt und die vermeintlichen Segnungen des industriellen Zeitalters aber nicht erschüttern. Schneller, weiter, höher, größer – diese Maximen der neuen Zeit gelten auf allen Gebieten, von der Luftfahrt über den Bau von Schlachtschiffen bis zur beginnenden Massenproduktion von Automobilen. Das Leben in den Städten wird hektischer, der Verkehr dichter, die Luft schlechter, dafür aber auch die Mobilität einiger Bevölkerungsschichten größer.
Nach wie vor sind jedoch jene, die den technischen Fortschritt ermöglichen, in hohem Maß unterprivilegiert. Nach wie vor kämpft die preußische Sozialdemokratie um das allgemeine und gleiche Wahlrecht. Wie stark die Arbeiterschaft immerhin geworden ist, zeigt das Ergebnis der preußischen Landtagswahlen: Trotz des Dreiklassenwahlrechts ziehen zum ersten Mal sieben Sozialdemokraten in den Landtag ein. Die wirtschaftliche Lage wird weltweit von den Folgen einer Überproduktionskrise bestimmt: Hohe Arbeitslosenzahlen, sinkende Kaufkraft, übervolle Lager. Doch die Welt erholt sich rasch: Schon 1909 bessert sich die wirtschaftliche Lage wieder, ein neuer Boom setzt ein. Gleichzeitig verschärft sich der Kampf zwischen den Großmächten um Rohstoffgebiete und Absatzmärkte. Das Wettrüsten nimmt enorme Ausmaße an. Nur wenige Hellsichtige ahnen 1908, dass das hektische Treiben direkt in die »Urkatastrophe des Jahrhunderts« führt.