Fett schlägt Kohlenhydrate

Ernährung, Essen und Trinken 1909:

Die in der Mitte des 19. Jahrhunderts im Deutschen Reich verbreitete Unterernährung ganzer Bevölkerungsgruppen ist überwunden. Bedingt durch die positive wirtschaftliche Entwicklung ist der Lebensstandard in den letzten Jahrzehnten stark gestiegen, sodass 1909 im Allgemeinen eine gesundheitlich bedenkliche Mangelernährung selbst einkommensschwacher Schichten nicht mehr zu beobachten ist.

Diese Entwicklung zeigt sich deutlich an den veränderten Essgewohnheiten. Die Bedeutung von Kartoffeln und Brot – früher das Hauptnahrungsmittel der einkommensschwachen Bevölkerung – sinkt. Gefragt ist nun weniger kohlehydratreiche Kost, sondern fett- und eiweißhaltige tierische Nahrung. So hat der Konsum von Fleisch – vormals ein nur für die Oberschicht erschwingliches Lebensmittel – in den letzten Jahren stark zugenommen und beträgt 1909 pro Kopf und Jahr bereits rund 40 kg (1870: 27,6 kg).

Neben Fleisch sind nun auch andere hochwertige Nahrungs- und Genussmittel für breite Kreise der Bevölkerung erschwinglich geworden. Besonders auffällig ist der enorme Anstieg des Zuckerkonsums. Der durchschnittliche Pro-Kopf-Verbrauch, der 1870 noch bei 4,17 kg lag, beträgt 1909 bereits mehr als 17 kg. Ähnlich verhält es sich bei den einstigen Luxusprodukten Kaffee und Kakao: Der Pro-Kopf-Verbrauch stieg von je 0,01 kg im Jahr 1840 bis 1909 auf 2,99 bzw. 0,57 kg.

Zu dieser Entwicklung tragen neben dem wachsenden Realeinkommen der Deutschen auch die technischen Fortschritte bei der Konservierung und Verarbeitung von Lebensmitteln bei. Kühlhäuser, die die Lagerung von Fleisch ermöglichen, sind bereits in jeder größeren deutschen Stadt zu finden. Neue Methoden – wie die 1886 entwickelte Pasteurisierung – haben sich durchgesetzt und ermöglichen eine rationelle Versorgung der Städte mit Milch. Die Konservenindustrie ist nun bereits in der Lage, dem Verbraucher ganzjährig Gemüse, Obst, Fleisch und sogar Fisch anzubieten.

Eine immer größere Rolle spielen die Fertiggerichte. Hersteller wie Liebig oder Knorr haben Tütensuppen entwickelt, die preiswert sind und rasch zubereitet werden können. Eine Neuerung stellt 1909 das Unternehmen Maggi vor: Es bietet erstmals Suppenextrakt in Form eines Brühwürfels an.

Trotz aller im Deutschen Reich erzielten Fortschritte in der Versorgung mit Nahrungsmitteln unterscheiden sich die Essgewohnheiten der Oberschicht jedoch noch immer stark von denen einkommensschwacher Familien. Im wohlhabenden Bürgertum herrscht wesentlich mehr Abwechslung auf dem Speisezettel, auf den Tisch kommen hier auch einmal exotische Gemüse- und Obstsorten, die für die meisten unerschwinglich sind. Während im Alltag meist drei Gänge serviert werden, sind bei gesellschaftlichen Anlässen Menüs mit zwölf oder mehr Gängen keine Seltenheit.

Verändert haben sich auch die Trinkgewohnheiten. In den letzten Jahren ist der Schnapskonsum zugunsten von leicht alkoholischen Getränken wie Bier stark zurückgegangen. Der Grund dafür ist, dass der Alkohol in den ärmeren Bevölkerungsgruppen seine einstige Bedeutung für die Versorgung des Körpers mit Kalorien verloren hat: Schnaps wandelt sich vom Lebensmittel zum Genussmittel.

Für den Weinfreund bringt das Jahr 1909 einen großen Fortschritt. Eine Reichstagskommission arbeitet ein Gesetz aus, das eine genauere Deklarierung von Wein und Sekt auf den Etiketten vorschreibt. Die im Weingesetz von 1882 festgelegten Grenzwerte für die Nachzuckerung von Wein werden gesenkt. Allerdings dürfen Winzer ihren Erzeugnissen auch künftig einen Zuckerwasser-Anteil von bis zu 20% zusetzen. Der auf diese Weise gestreckte Wein darf dann aber nicht mehr die Gütebezeichnungen »Naturwein«, »Kreszenz«, »Eigenes Erzeugnis« oder »Eigenes Gewächs« führen.

Chroniknet