Bildung 1909:
Im Zuge der rasanten wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung des Deutschen Reiches seit Ende des 19. Jahrhunderts ist auch das deutsche Bildungswesen immer weiter ausgebaut worden. Die »Verschulung der Gesellschaft«, die Erfassung der Kinder und Jugendlichen in Schulen und anderen öffentlichen Erziehungseinrichtungen ist nahezu lückenlos erfolgt. In Preußen haben sich die öffentlichen Bildungsaufwendungen pro Einwohner seit 1895 fast verdoppelt. Form und Inhalt der schulischen Erziehung geben allerdings Anlass zu vielfältiger Kritik; die Diskussion um Theorie und Praxis reformpädagogischer Ansätze erfährt 1909 eine weitere Intensivierung.
Der Unterrichtsalltag an Volksschulen, Oberrealschulen und Gymnasien ist stark von Zucht, brachialer Autorität oft überforderter Lehrer und Schematismus bei der Stoffvermittlung geprägt. Nicht selten versteht sich der wilhelminische Oberlehrer als eine Art pädagogischer Unteroffizier im Klassenraum. Von den Schülern wird in erster Linie Disziplin und mehr oder minder sture Wissensaneignung verlangt. An dieser »entfremdeten Paukschule« üben verschiedene Richtungen der Reformpädagogik heftige Kritik. Neben der seelenlos autoritären Struktur wird an der herkömmlichen Schule vor allem bemängelt, dass sie den gesellschaftlichen Anforderungen bei weitem nicht gerecht werde. Auch das traditionelle Gymnasium mit seiner Betonung der alten Sprachen und Geschichte ist in diesem Zusammenhang Attacken ausgesetzt. Der Titel eines Buches, das Wilhelm Ostwald 1909 veröffentlicht, könnte fast als Motto für die pädagogische Kritik angesehen werden: »Wider das Schulelend. Ein Notruf« überschrieb Ostwald seine Publikation, in der er, teilweise an Entwürfe aus dem 19. Jahrhundert anknüpfend, eine grundlegende Reform des deutschen Schulsystems fordert.
Ein herausragender Vertreter der Reformpädagogik ist Gustav Wyneken, der 1909 den »Bund für freie Schulgemeinden« gründet. Das Konzept Wynekens, eines langjährigen Mitarbeiters von Hermann Lietz, dem Gründer des ersten »Deutschen Landerziehungsheims«, enthält die Hauptelemente der Reformpädagogik: Ästhetische Bildung und Kunsterziehung; körperliche Betätigung; Arbeit und handwerkliche Tätigkeit; Orientierung an einer Psychologie des Kindes. Zusammen mit Paul Geheeb gründete Wyneken 1906 die »Freie Schulgemeinde Wickersdorf« bei Saalfeld im Thüringer Wald, in der er seine pädagogischen Vorstellungen zu realisieren versucht. Die Kinder sollen auf einer »pädagogischen Insel« auf dem Land zur freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit gelangen. In einer »geistigen Gemeinschaft« soll der Lehrer Kamerad der Schüler sein. Das Erlebnis der Natur nimmt in Wynekens Konzept einen hohen Stellenwert ein. 1909 kommt es allerdings zum Bruch zwischen Wyneken und Geheeb, der 1910 die »Odenwaldschule« gründet. Wyneken hat in seiner »Freien Schulgemeinde Wickersdorf« ständig mit beträchtlichen Problemen wie einer hohen Lehrerfluktuation und Finanznöten zu kämpfen.
Starke Beachtung in ganz Deutschland findet die 1906 vom Reformer Berthold Otto eröffnete »Hauslehrerschule« in Berlin-Lichterfelde. Otto, für den die normale Schule nichts anderes ist als eine »Zwangsanstalt«, setzt in der Unterrichtspraxis ganz auf Eigeninteresse und Freiwilligkeit der Schüler. Wie die meisten seiner reformorientierten Mitstreiter will er die Schule auf ein freies Gespräch zwischen Schülern und Lehrern gründen. Zwar sind jene neuartigen, oft eigenwilligen Schulformen seltene Blüten im wilhelminischen Erziehungssystem; als pädagogische Experimentierfelder liefern sie jedoch zahlreiche Anregungen, die in den folgenden Jahren und Jahrzehnten z. T. auch in das öffentliche Schulsystem Eingang finden.