Zwischen Arbeitswelt und Demokratisierung

Bildung 1910:

Die Entwicklung der Bildung ist geprägt von zwei Hauptmerkmalen. Zum einen zeigen die Bildungs- und Erziehungsströmungen überall individualisierende Formen, die auf den Demokratisierungsprozess in der Gesellschaft zurückzuführen sind. Zum anderen erfordert die fortschreitende Industrialisierung eine bessere Allgemeinbildung, und zusätzlich tritt die fachspezifische Berufsbildung stärker in den Vordergrund. Bildung und Erziehung befinden sich in einer Übergangs- und Umwandlungsphase.

Am 1. April tritt im Königreich Württemberg das neue Volksschulgesetz in Kraft. Während seit 1806 die Volksschule unter der Aufsicht von Orts- und Bezirksgeistlichen stand, geht die »geistliche Schulaufsicht« nun an einen weltlichen Oberschulrat über. Damit erfolgt auch per Gesetz eine Art Verstaatlichung der Volksschule, die sich bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert abzeichnete.

Die Demokratisierungsbestrebungen schlagen sich unter anderem in der Gründung der »Odenwaldschule« durch den Reformpädagogen Paul Geheeb nieder. Sie wird im April eingeweiht. Der Gründer richtet die »Schulgemeinde« als Zentrum des Gemeinschaftslebens ein und führt die Schülerselbstverwaltung ein. Das Prinzip der Erziehung beruht auf der Selbstentfaltung der Jugendlichen und der Übernahme von Verantwortung. Das Landerziehungsheim umfasst eine sechsjährige Grundschule mit einem Schwerpunkt auf der Ausbildung handwerklicher Fähigkeiten sowie die Volksschuloberstufe und einen Mittelschul- und Gymnasialzweig. Es handelt sich um eine überkonfessionelle Schule, in der Mädchen und Jungen gemeinsam unterrichtet werden (Koedukation).

Die Volksbildungsbewegung, die studentische Arbeiter-Unterrichtskurse durchführt, erreicht im Deutschen Reich im Wintersemester 1910/11 mit 400 Kursen einen Höhepunkt. Mehr als 10 000 Arbeiter nehmen daran teil. Die Idee zu dieser Art von Unterricht hatte sich in der Freistudentenschaft entwickelt. Die bildungspolitischen und demokratischen Vorstellungen zielen auf das unmittelbare Engagement der Studenten in der Arbeiterbildung. Ursprünglich wurde vor allem Unterricht in Elementarfächern wie Deutsch, Schreiben und Rechnen erteilt, später werden auch berufsspezifische Kenntnisse wie Stenografie, Buchführung und Rechtskunde vermittelt.

Auch das kaufmännische Schulwesen verzeichnet einen starken Aufschwung. Die Zahlen der Schüler an kaufmännischen Schulen haben sich in Preußen seit 1900 verdreifacht, von 21 100 auf 64 671 . Für das Deutsche Reich werden die Schüler an den 799 kaufmännischen Schulen auf 100 000 geschätzt. Ähnliches ist bei den gewerblichen, landwirtschaftlichen und den Bergbauberufsschulen zu beobachten.

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