Aufstiegschancen bleiben weiterhin wenigen vorbehalten

Bildung 1923:

Trotz der bildungs- und schulreformerischen Bestrebungen der Nachkriegsjahre sind die Strukturen des deutschen Schulsystems – schichtenspezifische Auslese und Konfessionsgebundenheit – weitgehend unangetastet geblieben. Allerdings hat sich die Exklusivität der Hochschulbildung zugunsten des Mittelstands gelockert.

So ist die gegenüber dem Vorkriegsstand deutliche Zunahme der an deutschen Universitäten immatrikulierten Studenten (Sommersemester 1913: 60 061 , Sommersemester 1923: 85 394 ) auf den wachsenden Anteil der Studentinnen (von 3368 im Sommersemester 1913 auf 8763 im Sommersemester 1923), besonders jedoch auf die neue soziale Zusammensetzung der Studentenschaft zurückzuführen. Während sich vor dem Weltkrieg ein beträchtlicher Teil der Studenten aus der Oberschicht rekrutierte, stellt nun der Mittelstand die überwiegende Mehrheit des akademischen Nachwuchses. Damit zusammenhängend ist auch das neuartige Phänomen des sog. Werkstudenten entstanden. Infolge der wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Nachkriegsjahre, die nicht zuletzt den Mittelstand belasten, ist ein großer Teil der Studenten gezwungen, das Studium selbst zu finanzieren (660 000 Werkstudenten im Sommersemester 1922).

Am 13. April schildert Preußens Kultusminister Otto Boelitz im Hauptausschuss des preußischen Landtags die schwierige Lage der Studenten. Hunger und Entbehrung seien das Los des weitaus größten Teils der akademischen Jugend. Eine Reihe von Studenten müsste oft mitten im Studium aus Not die Universität verlassen. Ferner weist Boelitz auf die Gefahr des Brotstudiums hin: Die Beschäftigung mit dem, was nicht für das Examen nötig sei, trete zurück.

Schulreformerische Initiativen, besonders der Länder mit sozialdemokratischer Regierungsbeteiligung (Preußen u.a.), konnten die zugunsten der Einheitsschule angestrebte Aufhebung der schichtenspezifisch vertikalen Dreigliedrigkeit des Schulsystems – Volksschule, Mittelschule, Höhere Schule – bislang nicht durchsetzen. Zwar wurde im Jahre 1920 die vierklassige gemeinsame Grundschule eingeführt, jedoch besucht die Masse der Schüler nach wie vor die Volksschule (1921/22: 8 930 070 ). Rund 40% dieser Schüler erreichen das ohnehin niedrig gesteckte Schulziel der öffentlichen Volksschulen jedoch nicht, was u. a. auf die ungünstigen Unterrichtsbedingungen zurückzuführen ist. Hohe Klassenfrequenzen – 1921/22 sind 55,6% der Klassen mit mehr als 40 Schülern besetzt – und die mangelhafte Ausstattung mit Lehrkräften – auf eine Lehrkraft kommen 1921/22 durchschnittlich 45,4 Schüler – prägen die Situation an den öffentlichen Volksschulen. Nur eine kleine Minderheit der Schüler (rund 6,5%) besucht eine Mittelschule (1921/22: 329 344 ) oder eine der Höheren Schulen (1921/22: 751 442 ). Lediglich 4% der Schülerpopulation an den Höheren Schulen stammen aus Arbeiterfamilien, die überwältigende Mehrheit rekrutiert sich aus Ober- und Mittelschicht.

Das dreigliedrige Schulsystem bietet nach Durchlaufen der Grundschule nur wenigen eine Aufstiegsmöglichkeit und zementiert damit die gesellschaftliche Schichtung. Auf den energischen Widerstand der evangelischen und katholischen Elternschaft stoßen die Bestrebungen zur Entkonfessionalisierung besonders der preußischen Schulpolitik, die eine weltliche Regelschule anstrebt. Am 10. April 1923 werden in Berlin die ersten acht weltlichen Schulen eröffnet. Diese sog. Sammelschulen stehen Kindern offen, die nicht an dem ansonsten obligatorischen Religionsunterricht teilnehmen wollen. Die Bekenntnisschulen beherrschen jedoch nach wie vor das Feld (im Deutschen Reich gibt es 1921/22 29 439 evangelische, 15 009 katholische und 207 jüdische Bekenntnisschulen).

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