Betonung weiblicher Formen statt moderner Sachlichkeit

Mode 1929:

»Die modische Linie verlangt eine weibliche Wirkung, denn die Frau zeigt wieder Figur. Geradlinigkeit und Schlichtheit bleiben dem sportlichen Dress vorbehalten. Das gerade Hängerkleid ist nicht mehr modern. Favorit ist das Prinzeßkleid, das sich um Taille und Hüften schmiegt. Die Mode konzentriert

sich auf diagonale Ziernähte, eingesetzte Dreiecke und Godets um Taille und Hüften, die Bewegung in die Röcke bringen.« Mit diesen Worten charakterisiert die »Elegante Welt« in ihrer Ausgabe vom 4. März 1929 die Linie des Jahres 1929. Der Schnitt solcher Kleider wird als »Architektenarbeit« be-

zeichnet. Madeleine Vionet ist die anerkannte Meisterin des Schrägschnitts, bei dem der Stoff diagonal zum Fadenlauf verarbeitet wird. Sie schneidet das Modell auf einer Puppe in kleinerem Maßstab zu.

Die Taille rutscht etwas hinauf, mehr an die natürliche Stelle. Die sportliche Tageskleidung bleibt kniekurz, während sich der Saum beim Nachmittagskleid leicht verlängert. Die weibliche Linie zeigt sich besonders an der verspielteren Ausgestaltung der Kleider, zu der unterschiedliche Kragenformen, Plissé-Einsätze und Jabots gehören. Bei Tageskleidern steht Jersey (nach dem größten französischen Hersteller auch Rodierstoff genannt) als Material an erster Stelle, bei Nachmittagskleidern Samt und bei Kostümen Wollstoffe und Tweed. Kleine Muster wie Streublümchen, Schiffchen, Kreise und Tupfen behaupten sich.

»Trotz der noch bestehenden Differenzierung zwischen Tages- und Nachmittagskleid wird sich die Kleidung der Frau immer mehr auf Tages- und Abendkleider beschränken, denn für das Nachmittagskleid wird infolge der Bequemlichkeit und Inanspruchnahme der Frau kein Verlangen mehr vorhanden sein«, so die Modezeitschrift »Elegante Welt«.

Statt des Kleides setzt sich zunehmend das praktische Complet aus zwei, drei oder vier Teilen durch, das ein schnelles Variieren der Garderobe erlaubt. Es sind Kleider oder Röcke mit Blusen, die durch ein Bolero, ein Cardigan oder einen langen Kasack ergänzt werden. Beliebt sind dreiviertellange Mäntel. Für den Abend gibt es mit Jersey gefütterte Samtmäntel.

Die ganze Fantasie entlädt sich im Abendkleid, dessen Wirkung nicht mehr von üppigen Strass- und Paillettenstickereien, sondern von raffinierten Schnittdetails ausgeht. Es ist in jedem Fall bis zur Hüfte figurbetont, während die Silhouette des Rockes durch eingesetzte Godets, ein Volantgerinnsel oder angesetzte Orgelpfeifenfalten äußerst bewegt ist. Diese Bewegtheit wird einerseits durch das Material (Chiffon, Georgette, Seidenkrepp und Tüll), andererseits durch den stets unregelmäßigen Saum unterstrichen. Dieser ist entweder vorn und hinten waden- und seitlich bodenlang, oder nur vorn wadenlang und verlängert sich nach hinten zu einer Schleppe. Gefragt ist das große Rückendekolleté, das von einem breiten Kragen oder herabhängenden Flügeln umrahmt wird.

Die lieblichen Silhouetten werden durch seitlich gescheitelte, flach ondulierte Wellenfrisuren ergänzt, während der strenge Bubikopf nicht mehr gefragt ist. Die Hüte verändern sich zu vollkommen randlosen, anliegenden Kappen, sog. Toquebaretts. Sie sind asymmetrisch geschnitten, d. h. sie verlängern sich auf der einen Seite zu einem langen Flügel, während sie das andere Ohr knapp bedecken. Als sportliche Kopfbedeckung wird die Baskenmütze entdeckt. Um das Bein optisch zu verlängern, fällt die beliebte Ristspange weg. Stattdessen werden weitausgeschnittene Pumps verbindlich. Für die sportliche Dame gibt es neue Golf-, Tennis-, Reit- und Ski-Kollektionen. Zum Golf werden Jersey-Ensembles, zum Tennis weiße, ärmellose Kleider mit kniekurzen Faltenröcken getragen. Der korrekte Reitdress besteht nicht nur aus Jackett, Krawatte und Breeches, sondern nach wie vor auch aus dem Kostüm mit Reitrock für den Damensattel.

Die modische Herrenkleidung betont breite Schultern, eine hoch liegende Taille und gleitende Hüften. Die Revers sind allgemein kurz und breit. Immer bewusster wird die Abkehr von allen unnützen Spielereien in Schnitt und Besatz. Der zweireihige Anzug wird dem Einreiher vorgezogen. Streif, auf blauem oder braunem Grund, gilt als modisch, während Karos in den Hintergrund treten. Auch bei der Krawatte sind sehr breite Streifen gefragt. Die Hosen sind mäßig weit und verlieren ihren Umschlag. Smoking und Frack bleiben für den Abend verbindlich. Die Mode macht den Mann 1929 endgültig zum »Gürteltier«, schreibt der »Modenspiegel« am 19. März 1929: »Des Mannes Liebe geht vielleicht durch den Magen, sein Gürtel aber nicht über ihn. Den klaffenden Zwiespalt zwischen der Weste und dem heruntergerutschten Gürtel kann er auch mit aller Güte nicht überbrücken. Da schimmert es weiß oder gestreift, je nach der Farbe des Oberhemdes.« Neu als legerer Manteltyp ist der Polo-Coat. Er stellt ein Zwischending zwischen Paletot und Ulster dar. Er ist zweireihig, wobei auch das obere Knopfpaar geschlossen wird. Seine eingesetzten Ärmel sind mit einer Blende besetzt und die Kanten abgesteppt. Er wird stets durch einen weichen Hut ergänzt. Als Nachmittagsmantel wird weiterhin der Chesterfield empfohlen, der auch mit Melone getragen werden kann. Eine praktische Neuheit ist der Mantel mit ein- und ausknöpfbarem Futter.

Chroniknet