Millionen ohne Arbeitsplatz

Arbeit und Soziales 1930:

Die wirtschaftliche und soziale Situation im Deutschen Reich verschlechtert sich im Rahmen der Weltwirtschaftskrise: 22 700 Konkurse – 4500 mehr als 1929 – werden verzeichnet; Massenentlassungen sind die Folge.

Die Arbeitslosenzahlen steigen auf einen Jahresdurchschnitt von 3,08 Mio., gegenüber dem Vorjahr (1,90 Mio.) eine Zunahme der Erwerbslosen um 62%; im Dezember wird mit 4,4 Mio. im Deutschen Reich der Jahreshöchststand erreicht.

Die Angst um den Arbeitsplatz wirkt sich auch auf die Streikbereitschaft der Arbeiter aus, so dass es im Vergleich zu 1929 (431 Streiks) 1930 nur 342 Arbeitsniederlegungen gibt. Der tarifliche Bruttostundenverdienst weist für das Jahr 1930 zwar eine steigende Tendenz von rund 1,75% auf, doch zeigt das Beispiel der Mansfelder Metallindustrie im November, dass die Arbeitgeber die Gelegenheit nutzen, um die Löhne zu drücken. Die Gewerkschaften stimmen den Lohnkürzungen zu, um Arbeitsplätze zu erhalten.

Das Absinken der Preise um durchschnittlich 3,8% kann die Probleme, die in vielen Arbeiterfamilien durch die Arbeitslosigkeit des Hauptverdieners entstehen, nur wenig lindern. Im Deutschen Reich sind die Arbeitnehmer zwar gegen Arbeitslosigkeit versichert, doch beträgt die Unterstützung durch die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung nur 35 bis 75% des zuletzt gezahlten Grundlohns. Wer länger als 26 Wochen arbeitslos ist, erhält die wesentlich niedrigere sog. Krisenunterstützung. Dauerarbeitslose, die über neun Monate keine Arbeit finden können, sind auf die geringfügige Wohlfahrtshilfe der Gemeinden angewiesen. Im Dezember 1930 gibt es 667 000 Empfänger von Krisenunterstützung (Dezember 1929: 210 000 ), 761 000 Arbeitslose sind auf die Wohlfahrt angewiesen.

Die Folge der steigenden Arbeitslosigkeit ist eine Verelendung immer größerer Bevölkerungsteile, die sich z. T. nur noch unzureichend ernähren können und auf die Notküchen der Kirchen und Wohlfahrtsverbände angewiesen sind. Viele Familien verlieren ihre Wohnung, weil sie die Miete vom verringerten Einkommen nicht mehr zahlen können.

Eine drastische Folge der wirtschaftlichen Not ist auch das Ansteigen der Selbstmordrate: Im Deutschen Reich werden 1930 40,6 Selbstmorde auf 100 000 Einwohner verübt, 2,4% mehr als 1929.

Der unerwartet rasche Anstieg der Arbeitslosigkeit bringt die Reichsanstalt für Arbeitslosenvermittlung und Arbeitslosenversicherung, deren Budget bei der Gründung 1927 nur auf 1,4 Mio. Arbeitslose berechnet wurde, zunehmend in finanzielle Schwierigkeiten; sie muss 1930 mit rd. 1,6 Mrd. RM fast 500 Mio. RM mehr an Arbeitslosengeldern zahlen als im Vorjahr. Nachdem die Regierung das Defizit der Reichsanstalt bereits Ende 1929 durch ein Darlehen von 349 Mio. RM bezuschussen musste, bemüht sie sich nun um andere Wege zur Sanierung der Finanzen: Ein Konzept ist die Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung, die den Arbeitnehmern eine schmalere Lohntüte und den Arbeitgebern höhere Lohnnebenkosten beschert. Zwischen der arbeitgebernahen Deutschen Volkspartei (DVP) und der SPD entbrennt über den Umfang der Beitragserhöhungen ein Streit – der sog. 0,5%-Streit – der zum Scheitern der Koalitionsregierung unter Reichskanzler Hermann Müller (SPD) führte.

Chroniknet