Wiederaufbau und kühne Neubauten

Architektur 1948:

In Deutschland stehen 1948 immer noch das akute Wohnungsproblem und Möglichkeiten für dessen Lösung im Blickpunkt des öffentlichen Interesses. Fragen der architektonischen Gestaltung sind angesichts von Millionen Menschen, die in Flüchtlingslagern oder überfüllten Wohnungen leben müssen, zweitrangig.

Die Arbeit der Architekten in Deutschland besteht in der Hauptsache darin, Wohnraum zu schaffen. Es geht dabei vorrangig um die Wiederherrichtung und den Wiederaufbau beschädigter bzw. teilzerstörter Häuser. Aufgrund des Mangels an Baumaterialien sind dabei der gestalterischen Fantasie enge Grenzen gesetzt. Überall in Deutschland sieht man notdürftig wiederaufgebaute Häuser, provisorisch abgedichtete Dächer und behelfsmäßig abgestützte Außenwände. Einst prachtvolle Geschäftsstraßen, wie zum Beispiel Berlins Kurfürstendamm, bieten unter diesen Verhältnissen immer noch ein trostloses Bild.

Auch beim Wiederaufbau historischer Baudenkmäler wird zumeist mit bescheidenen Mitteln gearbeitet. So hat man zum Beispiel bei der Restaurierung der Paulskirche in Frankfurt am Main auf eine aufwendige Gestaltung des Innenraums völlig verzichtet.

Die Zerstörung der meisten deutschen Großstädte wird von nicht wenigen Architekten und Städteplanern aber auch unter anderen Aspekten als der bloßen Wiederherstellung des Alten gesehen. Ihre vieldiskutierten Pläne für einen künftigen Wiederaufbau sehen zum Teil radikale Veränderungen im Stadtbild vor. Verbreiterte Straßen, flankiert von Neubauten mit glatten Fassaden sollen die einst verwinkelten Innenstädte duchziehen. Ob es allerdings in absehbarer Zeit zu einer Realisierung dieser Vorhaben kommt, bleibt fraglich. Auch im Ausland bestimmt die Wohnungsnot das architektonische Schaffen. Auf der Suche nach Auswegen ist häufig Improvisation gefragt. In den USA und in Großbritannien werden Häuser aus industriell vorgefertigten Einzelteilen zusammengesetzt. Ein ähnliches Verfahren kommt nun auch in Deutschland zur Anwendung. Nach den Plänen eines Soester Ingenieurbüros werden in Goslar und Castrop-Rauxel Fertighäuser errichtet, für deren Aufbau vier Arbeiter zwei Wochen benötigen.

Ungeachtet des überall in der Welt vordringlichen Problems der Wohnraumbeschaffung werden 1948 aber auch architektonische Marksteine gesetzt. So wird in der sowjetischen Hauptstadt Moskau mit einem Neubau für die Lomonossow-Universität begonnen. Das nach seiner Fertigstellung 240 m hohe und 450 m breite Gebäude soll in Zukunft ein repräsentatives Wahrzeichen Moskaus werden. In seiner monumentalen Geschlossenheit gilt es als ein Beispiel der in der UdSSR vorherrschenden Kunstrichtung des »sozialistischen Realismus«.

Ganz im Gegensatz dazu steht ein Bauvorhaben in der südfranzösischen Hafenstadt Marseille, dessen Entwurf von dem Architekten Le Corbusier stammt. Geplant ist die Errichtung von 337 Wohneinheiten in mehreren Typenvarianten. Sie alle sind in einem 14-geschossigen Wohnblock von 157 m Länge zusammengefasst. In dem Gebäudekomplex sollen auch Läden, Cafés und Sporteinrichtungen untergebracht werden, was ihm den Charakter einer »vertikalen Stadteinheit« verleiht.

Chroniknet