Bildung 1951:
Das Hauptaugenmerk der Bildungspolitik und -praxis gilt sechs Jahre nach Kriegsende noch immer der Reorganisation. Die Rückkehr zur Normalität, d.h. zu einem geordneten, einheitlichen Schulbetrieb ist noch nicht erreicht.
Erschwerend wirkt dabei der sprunghafte Anstieg der Schülerzahlen bei gleichzeitiger Raumnot. Nach Angaben der Hamburger Schulbehörde erreichen die Schülerzahlen an Volksschulen in diesem Jahr mehr als 140% des Vorkriegsstandes. Statt benötigten 5000 stehen lediglich 2477 Klassenzimmer zur Verfügung. An 85% der 265 Hamburger Volksschulen findet deshalb ein zwei- oder mehrschichtiger Betrieb statt.
Auch »geistige Enge« gehört noch immer zum deutschen Schulalltag. Ganz entgegen der heilen Idylle von der Schule »als der schönsten Zeit des Lebens« leiden Schüler vielerorts unter den Auswüchsen einer überholten pädagogischen Moral. Rechthaberische »Standpauken«, Psychoterror und Prügelstrafe sollen nicht nur in wenigen Ausnahmefällen bedingungslosen Gehorsam durchsetzen.
Die Situation der Lehrer ist allerdings nicht privilegiert: Wohnungsnot, Verschuldung, Arbeitslosigkeit, geringe Bezahlung bereiten dem ganzen Berufsstand erhebliche Existenzsorgen. Eine Umfrage im Kreis Nienburg (Niedersachsen) ergibt, dass 82% aller in diesem Landkreis beschäftigten Lehrer mit Beträgen bis zu 20 Monatsgehältern verschuldet sind. Lehramtsanwärter verdienen 85 DM im Monat, Junglehrer zwischen 170 und 190 DM weniger als ein ungelernter Arbeiter. Ein Blick nach Frankreich zeigt, dass deutsche Pädagogen im internationalen Vergleich schlechter gestellt sind: Jenseits des Rheins erhält ein Junglehrer im Alter von 21 Jahren umgerechnet 250 DM, ein 25-jähriger unverheirateter Lehrer 350 DM, ein 30-jähriger Familienvater mit zwei Kindern 500 DM monatlich.
Zu Beginn der 50er Jahre gerät die Frage der Nivellierung der Hochschulreife in das Zentrum des bildungspolitischen Interesses. Es gilt, über die Ländergrenzen hinweg den »gemeinsamen Kern der Hochschulreife« zu formulieren, also für alle Abiturienten bei Studienbeginn gleiche Voraussetzungen zu schaffen. Die richtungweisenden Gespräche der Nachkriegszeit zwischen Vertretern von Schulen und Universitäten haben die »Tübinger Beschlüsse« zum Ergebnis, in denen ein Ende der sturen Wissensanhäufung zugunsten einer Durchdringung des Wesentlichen gefordert wird. »Verständnis« statt »Gedächtnisleistung« soll die neue, allgemeinverbindliche Marschroute heißen.
Auf die Hörsäle der Hochschulen findet ein regelrechter Sturm statt, eine »Studierteninflation« kündigt sich an. Die Hoffnung vieler auf eine materiell gesicherte Existenz nach einem Hochschulstudium erweist sich jedoch als trügerisch. Wirtschaft und Verwaltung erklären sich außerstande, die Vielzahl der Akademiker aufzunehmen. Dazu kommen soziale Nöte schon während des Studiums: Das Ergebnis einer Pflichtuntersuchung unter Münchner Studenten dokumentiert ein über dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung liegendes Maß an Unterernährung. 19,9% der männlichen Untersuchten weisen ein Untergewicht von bis zu 20% auf, 4,7% liegen sogar noch über diesem Wert. Der allgemeine Gesundheitszustand der Studentenschaft ist nicht immer zufriedenstellend: Neben Unterernährung werden in zahlreichen Fällen Kreislaufstörungen festgestellt.
Ganz im Gegensatz zum Hungerleider-Dasein manches Studenten führt der Arbeitskräftemangel im Steinkohlebergbau des Ruhrgebietes zu durchweg attraktiven Angeboten an bergbaufremde »Umschüler«. Der Bergbau hat ein eigenständiges Ausbildungswesen entwickelt, das viele Arbeitsuchende aus ganz Deutschland anlockt. Die Leistungen der Zechen in Bezug auf gute Verpflegung und billige Unterkunft sind dabei, den Zeitumständen entsprechend, von besonderer Bedeutung.
Einrichtungen wie das Knappenheim in Lohberg bei Dinslaken bieten angehenden Bergleuten und Umschülern Berufsausbildung und guten Verdienst. Ein 18-jähriger Lehrling kann bereits 250 DM im Monatsdurchschnitt verdienen. Ein erwachsener ungelernter Arbeiter außerhalb des Montanbereiches verdient lediglich ca. 200 DM. Nach Abzug für Unterkunft, Verpflegung und Wäsche verbleiben dem Lehrling noch über 200 DM zur freien Verfügung.
In Bochum-Weitmar ist der Bergmannsnachwuchs in einem Pestalozzi-Dorf untergebracht. Diese Unterbringungsart ermöglicht den jungen, ortsfremden Leuten sogar Familienanschluss Die jeweiligen Gast-Eltern sind selbst Bergleute und kennen die Notwendigkeiten und Probleme des Berufsalltags. Neben der beruflichen Weiterbildung sorgt ein Sozialpädagoge für sinnvolle Freizeitgestaltung und geistige Anregungen.