Wohnungsnot bleibt akut – schnelles Bauen hat Vorrang

Architektur 1956:

Allein 1956 werden in der Bundesrepublik mit öffentlichen Mitteln rund 581 000 Wohnungen fertiggestellt. Dabei wird auf Ästhetik meist kein großer Wert gelegt. Die Wohnraumknappheit soll durch zügiges und preisgünstiges Bauen bekämpft werden.

Ganze Stadtviertel werden neu geplant. Hermann Roloff erstellt 1956 einen vielbeachteten Gesamtbebauungsplan der Siedlung Kaster bei Bedburg. Sie soll nach ihrer Fertigstellung rund 10 000 Bewohner haben. In Hamburg-Altona entstehen unter der Leitung von Ernst May mehr als 12 000 Wohnungen. In der rund 170 ha großen Siedlung Neu-Altona sollen 40 000 Menschen eine Heimat finden.

Die ehrgeizigen Großprojekte stoßen jedoch zunehmend auf Unmut und Widerstand in der Bevölkerung: Die Arbeiten nach Mays Plänen, die einen Abriss vorhandener Bausubstanz zugunsten neuen Wohnraums vorsahen, wurden 1955 nach Einsprüchen von Bürgern gerichtlich gestoppt. Erst nach einer gründlichen Überarbeitung der Pläne kann 1956 die Bautätigkeit wieder aufgenommen werden. Im Rahmen der Internationalen Bauausstellung in Berlin, die 1957 eröffnet werden soll, entsteht an der Heerstraße ein Hochhaus, das viele Berliner als provokant empfinden. Sowohl der Standort als auch der Entwurf von Le Corbusier stoßen auf Kritik. Die Auseinandersetzung um das Projekt schlägt hohe Wellen. Befürworter werden als »Spinner«, Gegner des Le-Corbusier-Entwurfs als »Hinterwäldler« bezeichnet. Erst Ende 1956 kann mit dem Bau des Wohnhauses begonnen werden.

Einer der profiliertesten deutschen Architekten ist Hans Scharoun. Mit seinem Wohnhochhaus »Romeo« in Stuttgart beweist Scharoun, dass Bauen im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus nicht zwangsläufig mit einer uniformen Gestaltung einhergehen muss. 1956 legt Scharoun eine seiner ungewöhnlichsten Konzeptionen vor. Am Kemperplatz im Berliner Bezirk Tiergarten wird nach seinen Plänen die neue Philharmonie entstehen, in der entgegen der bislang üblichen Gestaltung von Konzertsälen die Bühne unterhalb der Zuschauer angeordnet ist. Der Saal – so Scharoun – ist »wie ein Tal gedacht, auf dessen Sohle sich das Orchester befindet, umringt von den aufsteigenden Weinbergen«.

Die in den letzten Jahren vor allem in den Vereinigten Staaten tätigen deutschen Architekten Ludwig Mies van der Rohe und Walter Gropius, beide einst Leiter des Bauhauses, arbeiten 1956 auch in Deutschland. Das von Mies van der Rohe gestaltete Nationaltheater Mannheim wird von Kritikern als eines seiner gelungensten Werke bezeichnet. Gropius hat im Berliner Hansa-Viertel seine Vorstellungen von einem zeitgemäßen Wohnhaus verwirklicht.

Gropius, zu dessen bekanntesten Bauten das Faguswerk in Alfeld bei Hannover (1910/1911) und das Bauhaus in Dessau (1925/1926) zählen, legt 1956 eine seiner wichtigsten theoretischen Schriften vor. In dem Buch »Architektur – Wege zu einer optischen Kultur« erläutert der 73-Jährige sein Konzept, das die funktionalistische, sachliche Gestaltung eines Baus in den Vordergrund rückt.

In dem indischen Bundesstaat Punjab entsteht eine neue Stadt. Anstelle der alten Hauptstadt Lahore, die 1947 an Pakistan angegliedert worden ist, soll das neuerbaute Chandigarh Regierungssitz werden. An dem Großprojekt sind namhafte Architekten aus Frankreich, Großbritannien, Indien und den USA beteiligt, darunter auch Le Corbusier und Walter Gropius.

Chroniknet