Arbeitslosenrate unter 1%

Arbeit und Soziales 1964:

Bei anhaltendem konjunkturellem Aufschwung erweist sich ein Mangel an Arbeitskräften als das derzeit größte Problem in der Bundesrepublik Deutschland. Obwohl verstärkt Frauen und Gastarbeiter zum Einstieg in das bundesdeutsche Erwerbsleben motiviert werden können, gelingt es nicht, den Bedarf, vor allem an höherqualifizierten Arbeitskräften, zu decken.

Im August des Jahres meldet die Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung in Nürnberg einen neuen Tiefstand. 102 800 Arbeitslose sind in der Bundesrepublik einschließlich Westberlin gemeldet. Das sind 1400 weniger als im gleichen Monat des Vorjahres. Ihnen stehen 680 000 offene Stellen gegenüber (Im Jahr 1963 gab es insgesamt 625 500 nicht besetzte Arbeitsplätze).

Das wirtschaftliche Wachstum in der Bundesrepublik bietet auch die Voraussetzung für eine weitere Steigerung der Einkommen. Ein männlicher Arbeitnehmer verdient 1964 bei einer durchschnittlichen Wochenarbeitszeit von 42,1 Stunden 870,- DM (Monatslohn einer Arbeitnehmerin: 595,- DM) – das sind 87,- DM oder 11,1% mehr als im Vorjahr. (Zum Vergleich: Die Lebenshaltungskosten stiegen gegenüber 1963 etwa um 2%.)

Da die Arbeitgeber angesichts des beträchtlichen Arbeitskräftemangels ihren Beschäftigten die Lohnerhöhungen beinahe widerstandslos gewähren, tritt für die Gewerkschaften eine Periode relativer Ruhe ein. Im Verlaufe des Jahres finden keine größeren Arbeitskämpfe oder Streiks statt.

In Anbetracht der angespannten Arbeitsmarktlage setzen immer mehr Betriebe auf Automation. Mit der Installation von elektronisch gesteuerten Fertigungsstraßen und dem vermehrten Einsatz von Großrechenanlagen will man zum einen Lohnkosten einsparen, vor allem aber dem Arbeitskräftemangel entgegentreten. Besonders in den Industriezweigen Fahrzeugbau, Chemiefasererzeugung und Raffinerie beherrschen schon vollautomatische Produktionseinheiten die Fabrikhallen. Etwa 1,5 Mio. Bundesbürger, so errechnet das Münchner Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung, werden jährlich arbeitslos durch Rationalisierung. Bedenken kommen angesichts dieser Zahlen jedoch nicht auf. Denn wegen des ungewöhnlichen Anstiegs von Produktion und Nachfrage erhöhen viele Unternehmen ihre Belegschaft, während sie gleichzeitig Rationalisierungen durchführen.

Die Automation zieht eine starke Umstrukturierung der Arbeitsfelder nach sich. Nicht mehr der handwerklich geschickte und erfahrene Industriearbeiter ist gefragt, sondern in der Regel ist ein nur kurz angelernter Arbeiter am besten an den Maschinen einsetzbar. Es zeigt sich, dass Langeweile und ungestillter Tätigkeitsdrang den Fachmann alten Schlags nicht selten dazu verleiten, die neuen Produktionsabläufe zu boykottieren, aktiv zu stören oder aus Unzufriedenheit über den Arbeitsplatz zu kündigen.

Sowieso wechseln zum Ärger der Unternehmer rund 35% aller in der westdeutschen Wirtschaft Beschäftigten im Jahr ihren Arbeitsplatz. Die Hoffnung auf bessere Arbeitsbedingungen, Aufstiegschancen oder der Wunsch nach mehr Lohn lassen die Erwerbstätigen scharenweise einen neuen Job suchen.

Die Firmen sind nicht ganz unschuldig an diesem Trend. Durch Abwerbung mit immer verlockenderen Offerten versuchen sie häufig sich gegenseitig die knappen Arbeitskräfte abspenstig zu machen.

Chroniknet