Bundesrepublik macht erstmals Schulden – Große Koalition löst Regierung Erhard ab

Politik und Gesellschaft 1966:

Gegenüber der von Krieg, Gewalt und Terror bestimmten Weltpolitik nehmen sich die Probleme der Bundesrepublik undramatisch aus, und doch ist die »Krise« das vorrangige Gesprächsthema: Eine geringfügige Rezession löst nach den Jahren des Aufschwungs Panikstimmung aus. Zwar bestehen gewisse Schwierigkeiten, es herrscht aber immer noch Vollbeschäftigung, und das Gros der Bundesbürger spürt das vermeintliche Debakel nicht. Die enormen Wahlverluste der Bürgerlichen in Nordrhein-Westfalen untermauern die Krisenhysterie. Der Streit zwischen CDU und FDP um den erstmals ungedeckten Haushalt für 1967 – die Etatlücke beträgt 4 Mrd. DM – wird von ehrgeizigen Nachwuchspolitikern als Anlass für die endgültige Demontage Erhards genommen. Die Wahlerfolge der rechtsextremen NPD bringen das Fass zum Überlaufen; im November erscheint die schwarz-rote Große Koalition endgültig als unvermeidbar.

Weite Teile der Bevölkerung erachten diese Koalition, der eine verschwindend geringe Opposition von nur 49 FDP-Abgeordneten im Bundestag gegenübersteht, als Zweckbündnis mit gravierenden Konsequenzen. In einer Prognose schreibt der Schriftsteller Günter Grass nach dem Koalitionsbeschluss an Willy Brandt: »Die allgemeine Anpassung wird endgültig das Verhalten von Staat und Gesellschaft bestimmen. Die Jugend unseres Landes wird sich nach links und rechts verrennen, sobald diese miese Ehe beschlossen sein wird.« Zwar wirkt sich die »Vernunftehe« zwischen CDU und SPD in vielen Bereichen integrierend aus, der »Einheitsbrei« der vormals so gegensätzlichen Parteien ruft jedoch in den nächsten Jahren eine radikale Opposition auf den Plan.

Chroniknet