Neue Esskultur konkurriert mit der gutbürgerlichen Küche

Ernährung, Essen und Trinken 1968:

Gaumen und Magen waren schon immer konservativer als der Geist. Während im Jahr 1968 an den gesellschaftlichen Normen und bürgerlichen Moralvorstellungen kräftig gerüttelt wird, ändern sich die Essgewohnheiten nur zaghaft.

Lediglich die junge Generation und die »moderne, erwerbstätige Hausfrau«, deren Modernität sich im Wesentlichen durch ihre Doppelbelastung definieren lässt bestehen nicht mehr auf einer traditionellen Ernährungsweise. Sie legen auch die Hemmungen gegenüber dem Fertiggericht ab und greifen schon mal in die Tiefkühltruhe, zu Konserven oder Fertiggerichten. Unter Verzicht auf das »Lob für die Hausfrau« kochen sie schneller und problemloser und verbringen weniger Zeit in der Küche. Wozu Kartoffeln schälen, kochen und stampfen, wenn man fertiges Kartoffelpüree kaufen kann, und warum Karotten putzen, wenn sie doch auch in Dosen angeboten werden.

Doch in deutschen Landen tut man sich noch schwer mit der neuen Esskultur Nur etwas über 2 kg tiefgekühlte Kost mutet sich der Bundesdeutsche pro Jahr zu. Damit hängt er weit hinter den Schweden und US-Amerikanern hinterher, die jährlich bereits 8 bzw. 30 kg der tiefgekühlten Nahrung verbrauchen. Die bundesdeutschen Tiefkühlfirmen sind jedoch zuversichtlich, was die weitere Entwicklung betrifft und locken die Verbraucher mit immer erleseneren Spezialitäten. Neben Kalbsrolle mit Brüsseler Füllung und Zwiebelbraten á la Puszta stehen jetzt bereits Bouillabaisse, Schweizer Chaesplätzli und italienische Pasteten auf dem Programm.

Überhaupt halten internationale Gerichte und Esssitten Einzug in die deutschen Küchen. Weithin beliebt ist die italienische Pizza, und die traditionelle Kartoffel wird hier und da durch das Weißbrot als Beilage ersetzt, wie man es etwa aus Frankreich kennt. Auch die Vorstellung von kompletten Mahlzeiten mit Suppe, Hauptgericht und Nachtisch lockert sich. Der Trend geht dahin, lieber kleine Imbisse einzunehmen, als immer auf einem klassischen Menü zu bestehen.

Der traditionelle, gutbürgerliche Mittagstisch ist außerdem – besonders bei jungen Intellektuellen – verpönt, weil das gesellige beisammen sein hinter der zügigen, durch Benimmregeln reglementierten Nahrungsaufnahme zurücktritt. Nach südlichem Vorbild möchte man lieber mit Freunden oder der Familie gemeinsam lange am Tisch sitzen und gemütlich essen, trinken und reden. Beliebt ist auch die von Kennern als »Brunch-in« bezeichnete Gestaltung der Mahlzeit, bei der das ganze Speisenangebot auf dem Tisch ausgebreitet ist, viel kalt gegessen wird und das, was warm bleiben soll, auf einem Rechaud köchelnd auf den Verzehr wartet.

Mit steigendem Wohlstand steht nicht mehr das »Sattwerden« an erster Stelle bei der Nahrungsaufnahme, sondern es gelüstet die Bundesbürger zunehmend nach Spezialitäten und Naschereien. Rund 6000 t Kartoffel-Chips verzehren die Bundesbürger 1968. Ebenfalls hoch im Kurs steht Schokolade: Mit über 5 kg pro Kopf und Jahr nimmt die Bundesrepublik eine Spitzenstellung im europäischen Vergleich ein. Andere Dimensionen, was Menge und Preis angeht, gelten für einen Schlemmerartikel, der nur für Genießer mit großem Geldbeutel erschwinglich ist. Mit Schrecken müssen nämlich die Gourmets 1968 feststellen, dass die italienischen weißen Trüffel knapp werden. Nur 1 bis 2 t der begehrten Pilze werden noch von den abgerichteten Hunden aufgespürt; 1 kg der Delikatesse kostet immerhin rund 600 DM.

Chroniknet