Schulen und Universitäten stöhnen unter Massenandrang

Bildung 1968:

Der Ausbau der öffentlichen Bildungseinrichtungen in der Bundesrepublik hält mit den steigenden Schüler- und Studentenzahlen kaum Schritt. Erschwerte Lern- und Studienbedingungen infolge des Massenbetriebs vergrößern die Unruhe an den Schulen und Universitäten. Über Maßnahmen zur Behebung des Lehrermangels, eine grundlegende Reform der Hochschulen und Zulassungsbeschränkungen für einzelne Studienfächer wird öffentlich diskutiert.

An den 33 203 allgemeinbildenden Schulen unterrichten 282 911 Lehrer fast 8,2 Millionen Schüler. Jedem Unterrichtenden stehen somit durchschnittlich 29 Lernende gegenüber; an Gymnasien sind es allerdings nur 19, an Grund- und Hauptschulen dagegen 33. Für 358 363 eingeschriebene Studenten an 163 wissenschaftlichen Hochschulen halten etwa 13 500 Professoren und Dozenten Lehrveranstaltungen ab. Obwohl fast 1300 neue Unterrichtsgebäude fertiggestellt werden, nimmt die Raumnot weiterhin zu.

Für den gesamten Bildungsbereich wenden Bund, Länder und Gemeinden etwa 19 Milliarden DM auf. Das sind 3,6% des Sozialprodukts und 12% der öffentlichen Haushalte. Dennoch liegt der Anteil der Abiturienten und Studenten an ihren Altersjahrgängen in der Bundesrepublik deutlich unter dem vergleichbarer Industrieländer. Vor allem Mädchen sowie Kinder von Arbeitern, Katholiken und Landbewohnern sind im sekundären und tertiären Bildungsbereich verglichen mit ihrem Anteil an der Bevölkerung deutlich unterrepräsentiert. Nur etwa 25% der Studenten sind weiblich; in technischen Studiengängen sind Frauen kaum vertreten. Der Anteil von Arbeiterkindern an den bundesdeutschen Universitäten beträgt nur 5,3%; in den USA sind es dagegen 30%, in Großbritannien etwa 25% und in Schweden 20%.

Die Bundesregierung ermutigt seit Mitte der 60er Jahre diese »bildungsscheuen« Gruppen zum Besuch weiterführender Schulen und Hochschulen, weil eine qualifizierte Ausbildung möglichst vieler Erwerbstätiger als Grundlage für die dauerhafte Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft angesehen wird. Die Kosten eines Studiums schrecken allerdings gerade Arbeiterkinder ab: 56% der Hochschüler leben vom monatlichen Scheck der Eltern, nur 17% erhalten öffentliche Unterstützung nach dem »Honnefer Modell«.

Mit ihren Leitsätzen zur Reform des Hochschulwesen reagiert am <!– 10. April 1968–> die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder auf die Ausbildungskrise. Danach sollen die Studienzeiten verkürzt und die Universitäten in Abteilungen und Fakultäten neu gegliedert werden. Gleichzeitig sollen die Privilegien der ordentlichen Professoren beschnitten und die Mitspracherechte der Studenten erweitert werden. Die Minister kommen damit den Vorstellungen der Studenten entgegen, die gleiches Stimmrecht für Professoren, den Mittelbau (Assistenten und Dozenten) und sich selbst in allen Hochschulgremien fordern. Unter dem Motto »Unter den Talaren Muff von 1000 Jahren« kritisieren viele Hochschüler darüber hinaus die Sonderrechte der Professoren und verlangen eine stärkere Ausrichtung der Ausbildungsinhalte an aktuellen Problemen. In einem Gesetzentwurf des hessischen Kultusministers Ernst Schütte sind diese Forderungen teilweise berücksichtigt. Die Westdeutsche Rektorenkonferenz spricht sich allerdings am <!– 9. Januar 1968 –> eindeutig gegen die Drittelparität aus, und 1500 Professoren bringen im »Marburger Manifest« ihre strikte Ablehnung zum Ausdruck.

Neben verstärkter Bildungswerbung führen die seit 1955 ansteigenden Geburten zur Überfüllung der Schulen. Zur Behebung des Lehrermangels vor allem in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern stellt die Volkswagenstiftung am 1. März 75 Millionen DM zur Verfügung. Damit sollen Akademiker für den Lehrerberuf gewonnen werden.

In Nordrhein-Westfalen setzt Kultusminister Fritz Holthoff (SPD) Hausfrauen mit Hochschulausbildung auch ohne Lehrerexamen im Schuldienst ein; sein Amtskollege Bernhard Vogel (CDU) aus Rheinland-Pfalz verkürzt die Referendarzeit für Lehramtsanwärter. Der Philologenverband verlangt eine höhere Besoldung, um den Lehrerberuf attraktiver zu machen.

Der deutsche Bildungsrat fordert am <!– 9. April 1968–> eine Verdoppelung der Aufwendungen für Schulen bis 1975 und die Errichtung von etwa 40 Gesamtschulen, die seiner Meinung nach den anstehenden Bildungsaufgaben besser gerecht werden als das bisherige dreigliedrige Schulsystem mit seinen Halbtageseinrichtungen.

Chroniknet