Aufbruchstimmung in Deutschland – Reformen und Mitbestimmung

Politik und Gesellschaft 1970:

Aber, wie immer in der Geschichte, steht die Politik nicht isoliert da. Der durch den Beginn der Entspannungspolitik gekennzeichnete »Klimawechsel« lief parallel zu strukturellen Veränderungen in Kultur und Gesellschaft der Bundesrepublik. Das Jahr 1970 ist Bestandteil eines Zeitabschnitts, in dem Umbrüche begonnen haben – Umbrüche, die das Denken und Verhalten der Menschen in den folgenden Jahrzehnten bestimmen. Nicht mehr die bedrückende Enge und Intoleranz der Nachkriegszeit waren maßgeblich für das geistige Klima. Gefragt waren Aufbruchtendenzen, Mitbestimmung und Mitverantwortung breiter Kreise. »Mehr Demokratie wagen« – so lautete die Losung, die der erste sozialdemokratische Bundeskanzler Willy Brandt ausgab. Engagierte Personen und Gruppen sperrten sich gegen die unkritische Unterwerfung unter wie auch immer geartete Autoritäten. Was vielen Konservativen nur als »blinde« Revolte gegen liebgewordene Traditionen galt, bewirkte häufig konstruktives Umdenken. So entstanden neue Konzepte etwa in der Bildungspolitik (Hochschulreform, Gesamtschulen); neue Formen der Mitbestimmung in den Betrieben, aber auch in kulturellen Institutionen, wurden anvisiert. Noch immer wirkte der im Herbst 1969 vollzogene Regierungswechsel in der Bundesrepublik – ähnlich wie der Rücktritt de Gaulles im gleichen Jahr in Frankreich – als Fanal einer sich verändernden politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Landschaft.

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