Bildungsexpansion und Schulreform in der Bundesrepublik

Bildung 1970:

In seiner Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 hatte Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) die Bildungspolitik an die »Spitze der Reformen« gestellt. Nachdem bereits zurzeit der Großen Koalition unter Kurt Georg Kiesinger (1966-1969) Schulen und Hochschulen ausgebaut worden waren, beginnt nun mit der sozialliberalen Regierung Brandt/Scheel die eigentliche Ära der Bildungsreform. Dabei geht es sowohl um den quantitativen Ausbau als auch um eine grundlegende Neustrukturierung des gesamten Bildungswesens im Sinne der Chancengleichheit.

Ausgelöst wurden diese Reformbestrebungen durch die Anfang der 60er Jahre von Experten wie Georg Picht für die Bundesrepublik Deutschland prophezeite »Bildungskatastrophe«, die einzutreten drohe, wenn nicht breitere Schichten den Zugang zu weiterführenden Schulen erhielten. Einerseits sah man die Position der Bundesrepublik als Industriestaat durch das Fehlen hoch qualifizierter Arbeitskräfte in Gefahr; andererseits wurde das »Bürgerrecht auf Bildung« (Ralf Dahrendorf), also ein demokratisches Bildungssystem gefordert, das allen Kindern unabhängig von ihrer sozialen Herkunft gleiche Chancen bietet.

Kernstück der Bildungsreform ist die Gesamtschule, zugleich Gegenstand heftiger parteipolitischer Kontroversen. Nach dem Willen von SDP und FDP soll sie das traditionelle dreigliedrige Schulsystem ersetzen. Zwar hatte man sich am 27. November 1969 in der Kultusministerkonferenz (KMK) mit den CDU-regierten Ländern darauf geeinigt, die Gesamtschule zunächst nur als Schulversuch einzuführen – in ihrem am 4. Juni 1970 verabschiedeten Bericht zur Bildungspolitik fordert die Bundesregierung jedoch Gesamtschule und Gesamthochschule als Regelfall. Damit distanziert sie sich auch vom Strukturplan des Bildungsrats, der die Dreigliedrigkeit (Hauptschule/Realschule/Gymnasium) beibehalten, aber durchlässiger machen will (s.u.). Auch in der am 25. Juni 1970 errichteten Bund/Länder-Kommission für Bildungsplanung (BLK) bleibt die Gesamtschulfrage zwischen sozialliberal oder sozialdemokratisch regierten Ländern (A-Länder) und den unionsregierten (B-)Ländern umstritten.

Der bildungspolitische Aufbruch seit Mitte der 60er Jahre schlägt sich in einer anhaltenden Expansion im Realschul- und Gymnasialbereich nieder. Die Hauptschule, die 1950 noch von 87,3% der Schüler besucht wurde (1960: 78,5%), ist 1970 nur noch für 71,2% der Schüler attraktiv. Der Anteil der Realschüler stieg von 2,8% (1950), über 6,5% (1960) auf vorerst 9,7% (1970). Das Gymnasium wurde 1950 von 8,6% der Schüler, 1960 von 12,8% und 1970 bereits von 15,5% besucht. Dies ist Ausdruck des stark gewachsenen Bildungsbewusstseins der Eltern, die für ihre Kinder bessere Schulabschlüsse anstreben.

Mit der enormen Zunahme der Abiturienten wächst der Druck auf die Hochschulen. Die Zahl der Studienanfänger hat sich von 7,9% eines Jahrgangs im Jahr 1960 auf 15,4% 1970 fast verdoppelt. Bund und Länder unternehmen erhebliche Anstrengungen zum weiteren Ausbau der Hochschulen. Laut Bildungsbericht der Bundesregierung sollen bis zum Jahr 1980 insgesamt 30 neue Hochschulen errichtet werden (<!– –>16.1.<!– –>).

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