Inflation und »wilde Streiks«

Arbeit und Soziales 1973:

Die sozial- und arbeitspolitischen Maßnahmen des Jahres 1973 werden von einer aufgeheizten konjunkturellen Entwicklung, einer nicht zu dämmenden Inflation und vor allem zum Jahresende durch den einsetzenden »Ölpreisschock« bestimmt. Die steigende Inflation macht sich vor allem ab Frühjahr des Jahres an der Erhöhung der Verbraucherpreise bemerkbar, die im Vergleich zum Vorjahr um 6,2% ansteigen und sich zum Ende des Jahres aufgrund der Ölkrise noch einmal erhöhen. Die durchschnittliche Arbeitslosenzahl liegt bei 273 000 Arbeitsuchenden.

Die Zahl der ausländischen Arbeitnehmer steigt gegenüber 1972 um 250 000 an und liegt bei insgesamt mehr als 2,5 Mio. Beschäftigten. Die im Herbst beginnende wirtschaftliche Rezession in der Bundesrepublik veranlasst das Bundesarbeitsministerium am <!– 23. November 1973 –> zur Verhängung eines Anwerbestopps für ausländische Arbeitnehmer, die nicht aus Ländern der Europäischen Gemeinschaft kommen, um einem Anstieg der Arbeitslosenzahlen vor allem in der besonders betroffenen Metall- und Automobilindustrie vorzubeugen. Dennoch steigt die Zahl der Erwerbslosen gegen Ende 1973 auf 600 000 und ist damit doppelt so hoch wie im Jahr zuvor. Trotz aller Stabilitätsanstrengungen der Regierung kommt es in der Lohnpolitik der Gewerkschaften zu Tarifabschlüssen, die weit über 10% Zulage hinausreichen. Die Unternehmen leisten den hohen Lohnforderungen der Gewerkschaften kaum noch Widerstand. Die nach wie vor kräftige private Nachfrage ermöglicht es, die höheren Kosten über die Preise auf die Verbraucher abzuwälzen.

Unruhe erzeugt ab Frühjahr eine neue Form von Arbeitskämpfen in der Metall- und Autoindustrie in der Bundesrepublik. In sog. wilden Streiks, also nicht von den Gewerkschaften organisierten Arbeitskämpfen, fordern die Arbeiter Teuerungszulagen und protestieren gegen das Tempo (Taktzeiten) der Fließbänder in den Fabriken (<!– 24.8.1973–>). In einzelnen Automobilbetrieben Europas werden schon innerbetriebliche Maßnahmen eingeleitet, die unter dem Stichwort »Humanisierung der Arbeitswelt« bessere Arbeitsbedingungen vor Ort schaffen sollen. In den Montagehallen des schwedischen Automobilkonzerns Volvo werden die ersten Montageinseln eingerichtet, in denen statt der Fließbandmontage komplexe Arbeitsvorgänge von Arbeitsgruppen durchgeführt werden.

In der Bundesrepublik verpflichtet das am 12. Dezember erlassene Arbeitssicherheitsgesetz die Unternehmen, Betriebsärzte und Sicherheitskräfte einzustellen. Sie sollen den Arbeits- und Gesundheitsschutz und die Unfallverhütung am Arbeitsplatz gewährleisten.

Der teuerste und längste Streik in der Bundesrepublik ist 1973 der »Dienst nach Vorschrift« oder auch Bummelstreik der Fluglotsen. Der sechs Monate dauernde Arbeitskampf des Fachpersonals der Flugsicherung soll bessere Arbeitsbedingungen schaffen und ein höheres Einkommen sicherstellen. Die wirtschaftlichen Verluste infolge von ausgefallenen und verspäteten Flügen belaufen sich auf rund eine halbe Milliarde DM (<!– 31.5.1973–>).

In der Auseinandersetzung um die Wohnungsnot und das aufblühende Spekulantentum in der Bundesrepublik setzen vor allem Jugendliche auf das Mittel der Hausbesetzung (<!– 28.3.1973 –>). Durch die schrittweise Aufhebung der Mietpreisbindung bei Altbauwohnungen seit 1970 – das 9. Bundesmietengesetz gestattet den Vermietern von Altbauwohnungen zum 1. Januar 1973 eine Mieterhöhung um weitere 10% – hat sich das Angebot an preisgünstigen Altbauwohnungen auf dem freien Wohnungsmarkt verringert. Von der allgemeinen Wohnungsnot sind in erster Linie die sozial Schwachen und die sozialen Randgruppen betroffen. Gastarbeiterfamilien zum Beispiel leben vielfach auf engem Raum in sanierungsbedürftigen Wohnungen zu überhöhten Mieten und müssen jederzeit befürchten, auf die Straße gesetzt zu werden.

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