Zu viel Fett – zu wenig Ideen

Ernährung, Essen und Trinken 1976:

Die Mehrzahl der Deutschen ernährt sich nach wie vor falsch. Die »Fresswelle« der 50er und 60er Jahre ist zwar etwas verebbt, hat aber die Essgewohnheiten der Deutschen nachhaltig beeinflusst

Kritik wird von zwei Seiten geübt. Zum einen sind es Ernährungswissenschaftler und Ärzte, die vor den gesundheitlichen Gefahren warnen, die mit einer übermäßig fett- und kohlenhydrathaltigen Ernährung verbunden sind. Schon zum Frühstück Wurst und Käse mit viel Butter, dazu stark gezuckerten Kaffee, zu Mittag kalorienreiches und vitaminarmes Kantinenessen, zwischendurch und abends vor dem Fernsehgerät Naschereien – das kann auf die Dauer nicht ohne Schäden für den Körper bleiben. Nach Erkenntnissen des Bundesgesundheitsministeriums sind rund 50% der Bevölkerung übergewichtig.

Aber auch, wer das Kochen als eine Kunst betrachtet, sieht Anlass zur Unzufriedenheit mit dem Treiben in deutschen Küchen. Die Speisezettel sind überwiegend monoton und wenig innovativ. Im Durchschnitt der Haushalte überwiegt die deutsche Hausmannskost – Fleisch, Kartoffeln mit schwerer Soße. Dazu Gemüse, das durch zu langes Kochen Geschmack und Nährstoffe zu einem großen Teil verloren hat. Am häufigsten kommt Schweinefleisch auf den Tisch. Fisch hingegen setzen nur rund ein Drittel der Hausfrauen zumindest einmal in der Woche ihren Familien vor.

Nach Ansicht von Gourmets wird in den westdeutschen Küchen bislang viel zu wenig experimentiert. Exotische Gerichte, ungewöhnliche Zutaten oder Zubereitungsarten sind noch die Ausnahme.

Außerhalb der eigenen vier Wände sind die Deutschen allerdings schon eher entdeckungsfreudig. Nachdem italienische Restaurants und Pizzerien bereits zum Stadtbild gehören, auch griechische, jugoslawische und chinesische Speiselokale einen wachsenden Kundenkreis haben, finden immer mehr Deutsche beispielsweise auch an indonesischer, portugiesischer oder südamerikanischer Küche Geschmack.

Es mehren sich auch die Anzeichen, dass eine wachsende Zahl von Menschen die Warnungen und Ratschläge von Ärzten und Ernährungsphysiologen ernst nimmt. »Bewusste Ernährung« ist für viele kein Fremdwort mehr. Sie entdecken die Vollwertkost und stellen häufig fest, dass eine gesunde Ernährung mit viel frischem Gemüse, wenig Fett und Zucker sehr schmackhaft sein kann.

Das Müsli mit Körnern ersetzt mancherorts das konventionelle Frühstück mit Brötchen, Kaffee und Marmelade. Unverkennbar ist dabei eine gesellschaftliche Gliederung der Essgewohnheiten Vollwertkost, Körnerfrühstück und Rohkost ist bei jungen Leuten, in studentischen Wohngemeinschaften oder in Akademikerkreisen weit stärker verbreitet als beim Durchschnitt der Bevölkerung. Gewisse Vorurteile gegenüber den »Rohköstlern« sind denn auch nicht zu verkennen.

Aber nicht allein von zu fetter und kalorienreicher Ernährung droht Gefahr für die Gesundheit der Bundesbürger. Zunehmend besorgt äußern sich Experten über chemische Rückstände in Nahrungsmitteln. Vor allem Fleisch enthält eine Vielzahl von Tierarzneien, die z.B. das Wachstum der Tiere beschleunigen oder ihre Anfälligkeit für Krankheiten verringern sollen, die unter den Bedingungen der oft wenig artgerechten Massentierhaltung gestiegen ist.

Verbraucher klagen nicht selten über fades oder wässriges Fleisch von hochgezüchteten Tieren. Ärzte äußern Bedenken wegen möglicher Auswirkungen auf den Menschen. Allerdings gibt es noch kaum wissenschaftlich gesicherte Untersuchungen über die Wirkung chemischer Rückstände in der Nahrung auf den menschlichen Organismus. Landwirtschaftsverbände und pharmazeutische Industrie versichern den Verbrauchern, dass die verwendeten wachstumsfördernden Mittel oder Medikamente für den Menschen völlig unbedenklich sind.

Chroniknet