Auto hat weiterhin Vorrang

Verkehr 1985:

Beim Ausbau der Verkehrswege hat der motorisierte Verkehr in der Bundesrepublik Deutschland immer noch Vorrang, obwohl die Nachteile des Individualverkehrs – lange Fahrzeiten durch Staus, Umweltbelastung durch Auspuffgase, Massenkarambolagen mit hohen Sach- und Personenschäden – immer deutlicher werden. Mit dem Einsatz von Hochgeschwindigkeitszügen wie dem »Intercity Experimental«, der im November 1985 auf einer Probefahrt zwischen Gütersloh und Neubeckum 317 km/h erreicht, versucht die Deutsche Bundesbahn Fahrgäste anzulocken. Darüber hinausgehende Ansätze einer alternativen Verkehrspolitik werden jedoch kaum verwirklicht: Der Fernverkehr wird weiterhin hauptsächlich auf der Straße abgewickelt, und in den meisten Städten bleibt das öffentliche Nahverkehrssystem weitgehend unattraktiv.

Im September 1985 wird in der Bundesrepublik ein neuer Verkehrswegeplan gebilligt, der bis 1995 Investitionen von 126,1 Mrd. DM vorsieht. Der Löwenanteil – nämlich 64 Mrd. DM – entfällt auf den Ausbau des Straßennetzes. Damit fördert die öffentliche Hand zulasten der Umwelt die – mit Blick auf die Arbeitsplätze in der Automobilindustrie und im Straßenbau – politisch gewollte Zunahme des Individualverkehrs, der sich zwischen 1960 und 1985 nahezu verdoppelt hat und dessen Anteil am gesamten Verkehrsaufkommen viermal höher ist als der des öffentlichen Verkehrs.

Der Verkehrswegeplan hat zwei große Investitionsschwerpunkte:

  • 50,1 Mrd. DM für das Bundesfernstraßennetz; es sollen rd. 2600 km Autobahnen und etwa 6000 km Bundesstraßen bis zum Jahr 2000 gebaut werden, das Autobahnnetz wäre dann etwa 10 500 km lang
  • 35 Mrd. DM für das Schienennetz, wobei der Aus- und Neubau von Schnellverkehrsstrecken (bis zum Jahr 2000 rd. 3200 km Streckennetz) den Schwerpunkt bildet.

Die Bevorzugung des Straßenverkehrs ist umstritten: Naturschützer und Grüne warnen vor der Zerstörung ökologisch noch intakter Gebiete und vor der dramatischen Ausrottung von Tier- und Pflanzenarten durch den Ausbau des Straßennetzes. Erfahrungsgemäß ziehen mehr Straßen auch mehr Verkehr an. 1985 legt jeder Bundesbürger durchschnittlich 9200 km mit dem Auto, aber nur 800 km mit der Bahn zurück.

Als Reaktion auf steigende Unfallzahlen – 1985 insgesamt 1,8 Mio. gegenüber 0,99 Mio. im Jahr 1960 – und die hohe Umweltbelastung (<!– 18.1.1985–>) fordern SPD und Grüne ein Tempolimit auf Fernstraßen. Die Bundesregierung lässt daraufhin – beginnend am 16. Januar auf der Strecke Hamburg – Bremen – auf 20 Autobahnabschnitten »Tempo 100« einführen. Der Test endet am 31. Oktober. Schon am 19. November erklärt die Bundesregierung – wie Kritiker meinen, voreilig – den Verzicht auf eine Geschwindigkeitsbeschränkung, denn eine wesentliche Reduzierung des umweltschädlichen Stickoxidausstoßes sei dadurch nicht zu erreichen. Eine Beurteilung der Testergebnisse wird dadurch erschwert, dass der mit der Auswertung beauftragte TÜV von einer »Befolgungsquote« von nur 30% ausgeht, während das Umweltbundesamt, das 1984 eine erhebliche Stickoxidreduzierung prognostizierte, erwartete, dass sich die Hälfte aller Autofahrer an ein Tempolimit halten würde.

Während in der Bundesrepublik alles beim Alten bleibt, kommen Impulse für ein »Umsteigen« aus der Schweiz: Am 1. Januar wird dort eine Gebühr für die Benutzung der Nationalstraßen eingeführt sowie eine Schwerverkehrsabgabe für Lkw und Busse, um die Autofahrer stärker als bisher an den finanziellen Folgen der Umweltbelastung zu beteiligen. Vielerorts – zuerst in Basel, später auch in Bern, Luzern, St. Gallen und Zürich – werden Umwelttickets eingeführt: Subventionierte Monatsfahrscheine, die dazu beitragen sollen, das Individualverkehrsaufkommen zu senken.

Chroniknet