Unfallzahlen steigen wieder

Verkehr 1986:

1986 wird auf Beschluss der Verkehrsminister der EG zum »Jahr der Verkehrssicherheit« erklärt. Wie wenig solche Appelle in der täglichen Praxis auf den Straßen bedeuten, zeigt die Unfallstatistik dieses Jahres in der Bundesrepublik Deutschland: Die Zahl der Verkehrsunfälle steigt – erstmals seit 1983 – wieder an (um 5,1%). 443 235 Verkehrsteilnehmer werden bei Unfällen verletzt und 8945 Menschen (plus 6,5%) getötet.

Diese Zahlen verweisen auf eine erhöhte Risikobereitschaft und mangelndes Gefahrenbewusstsein bei vielen Verkehrsteilnehmern. Die Entwicklung ist umso bedenklicher, als während des ganzen Jahres 1986 im Rahmen der EG-Kampagne in allen Ländern der Gemeinschaft durch einheitliche Symbole zum Kampf gegen Alkohol am Steuer, zum Schutz von Zweiradfahrern und Kindern und zur Einhaltung von Geschwindigkeitsbegrenzungen aufgerufen wird. Vor allem Kinder sind im Verkehr bedroht: In der Bundesrepublik Deutschland ist das Todesrisiko von Kindern im Verkehr doppelt so hoch wie z.B. in Schweden, Italien und Spanien.

Das Risiko junger Fahrer im Alter von 18 bis 25 Jahren, einen tödlichen Verkehrsunfall zu erleiden, ist durchschnittlich viermal höher als in anderen Altersklassen. Ein Tempolimit für Fahranfänger, wie es z.B. in Frankreich besteht (90 km/h), gibt es in der Bundesrepublik Deutschland nicht, dafür wird 1986 zur Verringerung der Unfallzahlen ein Stufenführerschein für Motorradfahrer und der sog. Führerschein auf Probe für Pkw-Fahrer eingeführt. In Zukunft soll sich der Fahranfänger zwei Jahre im Straßenverkehr bewähren, bevor er die endgültige Fahrerlaubnis erhält. Bei schwerwiegenden Verstößen gegen die Straßenverkehrsordnung muss sich der Fahranfänger je nach erreichtem Punktestand in der sog. Verkehrssünderkartei beim Kraftfahrtbundesamt in Flensburg folgenden abgestuften Maßnahmen unterziehen: Absolvierung eines Nachschulungskurses, Wiederholung der Fahrprüfung, Beibringen eines medizinisch-psychologischen Eignungsgutachtens oder – im Extremfall – Rückgabe der Fahrerlaubnis.

Das Schwergewicht des Verkehrs liegt weiter beim motorisierten Individualverkehr. Vier von fünf beförderten Personen kommen auf diese Weise ans Ziel. 1986 gibt es 26,9 Mio. zugelassene Pkw, dies sind doppelt so viel wie im Jahr 1970. Die Länge der Straßen ist jedoch im gleichen Zeitraum nur unwesentlich von 162 400 auf 173 200 km angestiegen; erheblich ausgeweitet wurde allerdings das Netz der Bundesautobahnen (von 4110 km auf 8350 km). Angesichts der Enge auf den Straßen wird in der EG ab Sommer 1986 ein Verkehrsleit- und -navigationssystem mit der Bezeichnung Prometheus entwickelt.

Die Prometheus-Forschungen greifen auf frühere Projekte deutscher Autohersteller wie ALI (Autofahrer-Leit- und Informationssystem) und EVA (Elektronischer Verkehrslotse für Autofahrer) sowie Citypilot und Scout zurück. Mit Prometheus soll ein elektronisches Kommunikationssystem zwischen Autos und Verkehrszeichen aufgebaut werden, welches das Fahrzeug automatisch zum gewünschten Ziel führt.

Mit den Stimmen der Regierungskoalition sowie der SPD-Opposition billigt der Deutsche Bundestag am 30. Januar den Bedarfsplan für den Ausbau der Bundesfernstraßen. Vorgesehen sind u.a. 1560 Straßenbauprojekte. Das Verkehrsnetz soll u.a. um 1600 km Autobahn erweitert werden.

Der im Sommer 1985 gebilligte Bundes-Verkehrswegeplan (Volumen bis 1995: 126 Mrd. DM) sieht zur Hälfte Ausgaben für den Ausbau des Straßennetzes vor. Forderungen von Naturschützern, Grünen und des 1986 gegründeten Verkehrsclubs Deutschland (VCD, Ende 1986 rd. 13 900 Mitglieder) auf vorrangige Förderung des öffentlichen Verkehrs bleiben ungehört. Versuche, die Bundesbahn rentabler zu machen, zeigen 1986 nur geringe Erfolge. Die Verluste betragen 3,3 Mrd. DM.

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