Zwischen Kitsch und Kunst

Wohnen und Design 1986:

Dem Gesichtslosen charakteristische Züge geben – auf diese Formel lässt sich der Anspruch bringen, den 1986 auch die Wirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland an das Produktdesign stellt und wofür sie auch bereit ist zu investieren. Der westdeutsche Designkongress mit dem Titel »Erkundungen« vom 11. bis 14. Mai in Stuttgart signalisiert einen Wandel: Auch in deutschen Unternehmen wird Design allmählich als wesentlicher Wettbewerbsfaktor anerkannt, denn – so der Marketingexperte Kurt Weidemann auf dem Stuttgarter Kongress – »in der technologischen Pattsituation, in der sich viele konkurrierende Produkte befinden«, ist das »Design oft die einzige Individualisierung und Unterscheidbarkeit, die Erlebbarkeit hineinbringt«.

Produkte empfehlen sich nicht mehr allein durch ihre Funktion, sondern sie wollen immer mehr auch durch Form überzeugen. Dies schafft neue Absatzchancen: Der Designer soll z.B. dafür sorgen, dass eine Uhr nicht bloß ein Zeitmesser ist, sondern dass sich der Verbraucher für ein besonderes Produkt entscheidet und sich nach Möglichkeit statt einer Uhr für alle Jahreszeiten vier Uhren für jeweils eine Periode des Jahresablaufs zulegt. Das Produktdesign gerät auf diese Weise immer mehr in den Sog des Marketings, dem es nicht in erster Linie um die Befriedigung vorhandener Bedürfnisse, sondern um die Weckung neuer Kundenwünsche geht.

Die Doppelrolle des Designers steht im Mittelpunkt des Stuttgarter Kongresses: Er ist einerseits Formgestalter von Gebrauchsgütern und als solcher in den Produktionsprozess einbezogen und seinen Zwängen unterworfen, andererseits aber auch ein Künstler, der seine eigenen Vorgaben zum Maßstab seines Schaffens machen will.

»Zwischen Kunst und Kommerz, zwischen Kitsch und Kunst« – diese Extrempositionen bestimmen auch zwei große Ausstellungen, die vor allem dem Wohndesign gewidmet sind: Die Musterschauen »Gefühlscollagen – Wohnen von Sinnen« in Düsseldorf (25. 4.-13. 7.) und »Seitensprünge« vom 2. bis 16. Mai in Frankfurt am Main. Durchgängig bei den »Jungen Wilden« des Möbeldesigns ist die Abkehr vom Dogma des Funktionalen, das in den 20er Jahren der deutsche »Bauhaus«-Gründer Walter Gropius so formulierte: »Ein Ding ist bestimmt durch sein Wesen, … denn es soll seinem Zweck vollendet dienen, d.h., es soll seine Funktion praktisch erfüllen, haltbar, billig und schön sein.«

Beeinflusst von der italienischen Avantgarde der 60er Jahre, vollziehen in den 80er Jahren nun auch in der Bundesrepublik junge Designer die Abkehr vom Funktionalen und entwerfen Produkte jenseits des Anspruchs auf Nützlichkeit. Gegen »Gesichtslosigkeit« und »massenhaftes Einerlei ohne Identität« setzen sie Spaß und Fantasie und ganz bewusste Provokation gegen die eingefahrenen Seh- und Erfahrungsgewohnheiten: Stühle mit spitz zulaufenden Sitzflächen, Sessel aus Plastikbürsten, Tische aus Astgabeln oder Sofas aus rostigem Blech. Der gute Geschmack wird durch Einfallsreichtum ersetzt, der Kampf gegen die »Diktatur der Wirbelsäule« und für die »Gleichberechtigung der Sinne« macht die Möbel zum Kunstobjekt.

Als Konsequenz dieser Erkenntnis erobert das Gegenwartsdesign immer mehr die Museen. Den Rückweg – aus dem Museum in die Wohnstuben – demonstriert Mitte der 80er Jahre der mittlerweile schon sechs Jahrzehnte alte Freischwinger, für den – neben anderen Designern – der Ungar Marcel Breuer die Urheberschaft beansprucht. Etwa 300 000 Nachbauten des Stahlrohr-Sitzmöbels aus den 20er Jahren werden jedes Jahr in Deutschland verkauft.

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