Hochschule weiter überlastet

Bildung 1989:

Das gravierendste bildungspolitische Problem in der Bundesrepublik Deutschland sind 1989 die völlig unzureichenden Kapazitäten der Hochschulen. An den Universitäten stehen 850 000 Studienplätze zur Verfügung, immatrikuliert sind im Wintersemester 1989/90 1,5 Mio. Studenten, darunter 252 500 Studienanfänger. Verschärft wird die Lage dadurch, dass in den letzten Jahren die Mittel für die Hochschulen nicht dem Bedarf entsprechend aufgestockt, sondern Personal und Ausbildungsmaterial eingespart wurden: Von 1975 bis 1986 hat sich die Relation Dozenten/Studenten an den bundesdeutschen Hochschulen von 1: 10 auf 1: 18 verschlechtert, an den Fachhochschulen von 1: 18 auf 1: 31.

Die angespannte Lage, auf die Studenten und teilweise auch Dozenten mit bundesweiten Streiks und Demonstrationen reagieren, soll durch Sondermaßnahmen entschärft werden. Im März verabschieden Bund und Länder ein Hochschul-Überlastprogramm, das den Universitäten und Fachhochschulen zusätzliche Mittel von 2,1 Mrd. DM verteilt auf sieben Jahre zur Verfügung stellt. Geplant sind u.a. die Schaffung neuer Stellen in besonders gefragten Studiengängen wie Betriebswirtschaft, Jura und Informatik sowie ein Kapazitätsausbau bei Bibliotheken und sozialen Einrichtungen für Studenten.

Darüber hinaus steigen 1989 erstmals seit der Regierungsübernahme der konservativ-liberalen Koalition in Bonn 1982 die Finanzmittel des Bildungsministeriums. Sie machen nur einen geringen Teil der gesamten Bildungsausgaben aus, weil Bildung grundsätzlich unter die Kulturhoheit der Länder fällt Von den 3,56 Mrd. DM, die als Etat des Bildungsministeriums vorgesehen sind, entfallen 40,8% auf die finanzielle Unterstützung von Schülern und Studenten nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) und 28,1% auf der Hochschulbau.

In Bezug auf das BAföG, das Kindern aus einkommensschwachen Familien ein Studium oder den Besuch einer weiterführenden Schule ermöglichen soll, zeichnet sich für die Studenten eine positive Entwicklung ab. Seit 1983 musste die Unterstützung nach Beendigung des Studiums vollständig zurückgezahlt werden (was die Zahl der Geförderten ungefähr halbierte). 1989 beschließt der Bundestag eine Reform der Bestimmungen. Danach müssen Studenten, die nach dem 1. Januar 1990 BAföG beziehen, nur noch die Hälfte der Leistungen zurückerstatten.

Außerdem werden die Freibeträge auf die Elterneinkommen so weit erhöht, dass voraussichtlich etwa 70 000 Kinder aus Familien mit mittleren Einkommen (Bruttojahresverdienst 40 000-70 000 DM) zusätzlich in den Genuss der Unterstützung kommen werden.

Vorgesehen ist darüber hinaus, das 1983 abgeschaffte BAföG für Schüler an Berufsaufbau-, Berufsfach- und Fachoberschulen wiedereinzuführen sowie Studenten, die sich vor Ablauf der Förderungshöchstdauer zum Examen gemeldet, es aber noch nicht abgeschlossen haben, für zwei weitere Semester Unterstützung zu gewähren.

Im Hinblick auf die kürzeren Ausbildungszeiten in anderen EG-Staaten werden 1989 in der Bundesrepublik verschiedene Ansätze zu einer Verkürzung der Schulzeit diskutiert. Im Gespräch sind u.a. eine Vorverlegung des Einschulungsalters von sechs auf fünf Jahre, eine Verkürzung der gymnasialen Ausbildung auf zwölf Jahre durch Straffung des Lehrstoffs, die Einrichtung von Ganztagsschulen und die Vorverlegung der Abiturprüfung, so dass das Studium ein Semester früher beginnen könnte.

Die Länder der Europäischen Gemeinschaft planen in ihren Bildungssystemen enger zusammenzurücken. Die Bildungsminister der zwölf Mitgliedsstaaten vereinbaren 1989 als erste Schritte die Vereinheitlichung von technischen Ausbildungs- und Studiengängen, eine Ausdehnung der Schulpflicht bis zum 16. Lebensjahr (in Spanien und Portugal endet sie derzeit mit 14 Jahren) und die Einrichtung eines Förderprogramms für den Spracherwerb in anderen Ländern.

Chroniknet