Am Rande des Kollapses

Verkehr 1990:

»Der mobile Wahnsinn, Millionen Deutsche unterwegs« oder: »Autos raus. Städte ersticken im Verkehr« – so lauten die Schlagzeilen, mit denen auf die Misere des Massenverkehrs aufmerksam gemacht wird.

Schon im innerstädtischen Autoverkehr drücken Staus und Ampeln die Geschwindigkeit auf 12 bis 15 km/h. Ein Beispiel dafür ist Berlin nach dem Mauerfall: 45 Minuten müssen die Autofahrer in Stoßzeiten rechnen, um die sieben Kilometer lange Strecke zwischen den beiden Zentren Ku’damm und Alexanderplatz zu bewältigen. In anderen deutschen Großstädten ist die Situation ähnlich. Münchens Oberbürgermeister Georg Kronawitter kommt deshalb zu dem Resultat: »Die großen Städte in der Bundesrepublik stehen praktisch alle am Rande des großen Verkehrskollapses.«

Selbst auf den Autobahnen gelten nach Untersuchungen des Verkehrsministeriums 40% des Netzes als chronisch überlastet. Die Bundesanstalt für Straßenwesen schätzt die jährlichen Staukosten durch Zeitverluste, zusätzlichen Benzinverbrauch, Unfälle und die stärkere Umweltbelastung insgesamt auf 15 Mrd. DM.

Auch in der Luft oder auf der Schiene geht es immer enger zu. Schon jeder vierte Flug erreichte 1989 den angepeilten deutschen Flughafen mit mindestens 15minütiger Verspätung. Und bei der Bundesbahn sank im Vorjahr der Anteil der pünktlich eintreffenden Züge von 91 auf 79%. Ob dennoch künftig mehr Waren- und Personenverkehr auf die Schiene verlegt werden kann, bleibt offen.

Angesichts der Massenmobilität zeigen sich die schädlichen Folgen des Verkehrs für die Umwelt 1990 besonders deutlich. Ob die Wissenschaft einen alarmierenden Anstieg des Ozons in Bodennähe (<!– –>21.7.<!– –>) oder verstärkte Gefahren durch den sog. Treibhauseffekt beobachtet: Der Autoverkehr zählt zu den Hauptverursachern der Verschmutzung. Straßenmessungen am Kölner Neumarkt ergeben einen Stickoxid-Wert von 245 Mikrogramm/m3 Luft, im Frankfurter Zentrum sogar von 253 mg; der europäische Grenzwert liegt zurzeit noch bei 200 mg. Es gibt aber kaum Versuche, den Autoverkehr zu reduzieren – Beispiele wie Zürich, wo dem öffentlichen Nahverkehr Vorrang eingeräumt wird, oder Lübeck, das die Altstadt am Wochenende autofrei hält, bleiben die Ausnahme.

Das eigene Fahrzeug ist nach wie vor auch ein Statussymbol: In der DDR nimmt mit der Einführung der Marktwirtschaft 1990 der Pkw-Bestand gegenüber dem Vorjahr um 23,5% zu. Zum Jahresende sind im vereinigten Deutschland rd. 50 Mio. Pkw zugelassen.

Die Kehrseite der Medaille: Die Zahl der Unfalltoten steigt mit 76% erheblich stärker. 3140 Menschen verlieren bei Verkehrsunfällen in der DDR ihr Leben, in Westdeutschland sogar 7906. Angesichts dieser Zahlen fordert Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth eine Ausweitung der Strecken mit Tempolimits. Selbst der ADAC vermutet, dass »elementare Bedürfnisse, die früher allenfalls zur Jahrmarktszeit auf dem Karussell befriedigt wurden, heute vielfach mit erheblichem Risiko im Straßenverkehr ausgelebt« würden.

Neben überhöhter Geschwindigkeit spielt auch Alkohol am Steuer eine Rolle bei Verkehrsunfällen: Am 16. Januar wird der Alkoholwert, bei dem Autofahrer als absolut fahruntüchtig gelten, von 1,3 auf 1,1 Promille gesenkt.

Die deutsche Vereinigung stellt 1990 schließlich auch die Verkehrspolitik vor eine Bewährungsprobe. Sie muss die Voraussetzungen schaffen, die letztlich eine ökonomische Eingliederung der neuen Länder in die Bundesrepublik ermöglicht. Verkehrsminister Friedrich Zimmermann (CSU) stellt im Mai ca. 1,9 Mrd. DM bereit, mit denen etwa 130 unterbrochene Verbindungen zwischen Ost und West wieder hergestellt werden. Zur Instandsetzung der ostdeutschen Verkehrswege müssen ca. 127 Mrd. DM (u.a. 58 Mrd. DM für das Schienen-, 48 Mrd. für das Straßennetz) aufgebracht werden.

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