Kommerz- und Musentempel

Architektur 1993:

1993 setzt sich ein Trend fort, der nunmehr seit mehr als einem Jahrzehnt Furore macht: die avantgardistische Ausgestaltung neuer Kulturbauten, die diese zum Aushängeschild zeitgenössischer Architektur werden lassen. Mehr und mehr entdeckt auch die Wirtschaft die Werbewirksamkeit aktueller Baukunst. Herausragendes Beispiel dafür ist der Möbelkonzern Vitra-Design in Weil am Rhein, der auch in diesem Jahr Schlagzeilen macht, nachdem er bereits 1990 mit Frank Gehrys Firmenmuseum Aufsehen erregt hatte.

Wie ein Blitz schlägt Zaha Hadids Feuerwehrhaus, ebenfalls für Vitra errichtet, in die bislang eher beschaulich-postmodern orientierte deutsche Architekturlandschaft ein. Es ist das erste realisierte Werk der irakisch-britischen Architektin, deren Werk als Inbegriff des architektonischen Dekonstruktivismus gilt. Kühn im Entwurf, besticht die Ausführung des Feuerwehrhauses obendrein durch das perfekte Zusammenspiel von Form und Funktion, die Eleganz der aufreizend schrägen Linienführung sowie durch Qualität und Verarbeitung exquisiter Materialien. Jedes Element des Baus offenbart explosive Dynamik: Seine Strukturen scheinen sich gegeneinander zu verschieben, Wandflächen verkeilen sich ineinander, freitragende Treppen, vom Geländer nur locker flankiert, schneiden sich durch die Stockwerke.

Eine vollkommen andere Sprache spricht dagegen der Kongresspavillon für Vitra-Design des Japaners Tadao Ando, ebenfalls ein herausragendes Beispiel der Architektur der 90er Jahre. Der in die umgebende Landschaft harmonisch eingefügte, ja eingelassene Bau schafft durch seine klaren, geometrischen Formen, die Ausgewogenheit der Proportionen und die edle Zurückhaltung bei der Ausstattung eine nahezu meditative Atmosphäre. Das Einkaufszentrum »Les Facettes« an der Frankfurter Zeil lenkt dagegen mit kinetischen Installationen, elektronischen Spielereien, Farb- und Formreizen die Aufmerksamkeit auf sich. Herz der Anlage ist ein über alle Geschosse reichender Innenhof, der durch Rolltreppen erschlossen wird. Seine »Stimmung« lässt sich mittels rechnergesteuerter Licht- und Toneffekte verändern.

An den zahlreichen Kulturbauten, die weltweit 1993 fertiggestellt werden, zeigt sich, dass die Trends der letzten Jahre und Jahrzehnte – allen voran der Dekonstruktivismus und die Postmoderne – Konkurrenz aus anderen Richtungen bekommen. So sind es zwei Architekten der iberischen Halbinsel, der Portugiese Alvaro Siza und der Spanier Rafael Moneo, die mit ihren eher dem Stil der klassischen Moderne verpflichteten Werken Aufsehen erregen. Sizas Centro Gallego de Arte Contemporáneo in Santiago de Compostela besteht aus zwei L-förmigen Blöcken, die einen dreieckigen Innenhof einschließen. Die Ausrichtung der Achsen des Baus sowie die Verkleidung der Fassaden mit Granit respektieren den Charakter der umgebenden historischen Substanz. Rafael Moneos Museum Davis im Wellesley College/Massachusetts ist gleichfalls aus strengen Kuben zusammengefügt, die nur sparsam durch Fenster und Sheddächer akzentuiert sind.

Dieselbe Bauaufgabe – ein Gebäude für eine Kunstsammlung auf dem Campus – löst der US-Amerikaner Frank Gehry mit ganz anderen, für ihn charakteristischen Mitteln: Der Komplex des Frederick-R.-Weisman-Museums in Minneapolis/Minnesota besteht aus einem Geschiebe sich durchdringender Kuben, Zylinder und Prismen, das eine Fülle verschiedener An- und Einsichten erlaubt.

Negative Schlagzeilen macht dagegen der äußerst umstrittene Umbau der Oper von Lyon durch den französischen Architekten Jean Nouvel. Das 1831 in neobarocken Formen errichtete Haus wird nun von einem High-Tech-Dach überwölbt, einer gläsernen Halbtonne, die den historischen Bau um seine eigene Höhe überragt. Das Innere ist völlig umgestaltet, auch hier dominieren avantgardistische Elemente und Schockfarben.

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