Romantisches neben Derbem: Mode liebt den Widerspruch

Mode 1994:

Übereinanderschichten, in welcher Reihenfolge auch immer, ist die Devise im Modejahr 1994. Besonders modisch ist dieses Layering, dieser Lagenlook, wenn – anders als gewohnt – das kürzeste und engste Teil zuoberst getragen wird. Ein blütenweißes Overshirt kommt außen über Rock oder Hosen, und darüber zieht man ein kurzes Westchen. Weiße Blusen sind Modefavorit und wirken dandyhaft durch hohe, aufgestellte Kragen und überlange Manschetten, welche die Hände bedecken.

Jacken sind die Basis der modischen Optik: Lässig weite aus leichter Microfaser, Blousons und sportive Lumberjackets bis zu strengen Gehröcken oder Cuts mit Samtkragen, oft an der Grenze zum Mantel. Selbst Hemd oder Bluse erhalten Jacken-Charakter, und umgekehrt fallen Jacken so weich wie Blusen.

Die Power-Frau liebt schmale Hosenanzüge und Kostüme aus fließender Seide in Nadelstreifenoptik. Sie vermeidet allzu Auffälliges. Ihrem sportlichen Stil entsprechen Leggins-Hosen (Hosen, so eng wie Leggins) sowie Reithosen in der Art von Jodhpurs. Dazu trägt sie die englische Barbour-Jacke, eine meist jägergrüne Öl- oder Steppjacke mit Cordsamtkragen.

Streetfashion, Sportswear und Workwear sind die Stile der Kids und beeinflussen die Laufstegmode von Paris bis New York. Workwear orientiert sich an der Kleidung der Arbeiter, an den blau-weiß gestreiften Mänteln von Fleischträgern oder den orangefarbenen Jacken von Straßenarbeitern und Müllmännern. In veredelter Form tritt dieser Stil als Holzfällerhemd, Baggy Pants, weite Arbeits-Latzhose oder derbe Hikingboots in Erscheinung. Die ehemaligen britischen Arbeitsschuhe, die Doc Martens, werden auch zum romantischen, halbdurchsichtigen Blümchenkleid getragen: Widersprüche sind »in«.

Grunge, die verwahrloste Romantik von »Abfall« und »Dreck«, der Punk-Stil der 90er Jahre, ist noch keineswegs aus der Mode. Abgetragenes aus Secondhandshops wird in kalkulierter Zufälligkeit zusammengemixt. Ein zipfelndes Seiden-Unterkleid, darüber Armeejacke und zerrissene Strümpfe – dieser Aufzug ist typisch für Grunge-Girls. Nicht nur das Charmeuse-Unterkleid wird zum Daydress, auch eine »klassische« Herrenunterhose – zum Beispiel jene von Calvin Klein – wird zum Body für Girls. Piercings als Ohr-, Nasen-, Lid- und Bauchnabelringe sowie Tattoos gehören zum modischen Erscheinungsbild von Youngstern beiden Geschlechts. Die Boys stehen auf Streetball, dem Basketball der New Yorker Hinterhöfe. Sportmodefirmen wie adidas sponsern Streetball-Turniere nicht zuletzt auch deshalb, weil sie ihre Mode und Turnschuhe lancieren wollen. Die schwarz-weißen adidas-Streifen, schon seit Jahrzehnten ein Markenzeichen, werden von Modedesignern entdeckt und als Blickfang an engen Jerseyhosen oder hautengen Cocktailkleidern eingesetzt.

Cocktailkleider haben den Glamour der 80er Jahre verloren. Sie präsentieren sich als minikurze Tüllhängerchen mit hoher Empiretaille und flatterndem Zipfelsaum oder hauteng mit raffinierten Schlitzen, die von Sicherheitsnadeln zusammengehalten werden. Karl Lagerfeld bringt durchsichtige Schlauchkleider als »visuelle Filter« unter BH-Tops und Micro-Minis. Der Reiz liegt im Mix von transparenten Stoffen, löchriger Netz- und Häkeloptik mit dichten, grobstrukturierten Materialien neben gewaschenem Leinen, Krepp- und Knitterstoffen.

Negative Schlagzeilen macht ein Lagerfeld-Modell mit einem Bustier, bestickt mit Schriftzügen aus dem Koran, das Topmodel Claudia Schiffer vorführt. Muslime sehen darin einen eklatanten Fall von Gotteslästerung. Karl Lagerfeld entschuldigt sich und lässt das Kleid vernichten.

Waden- und knöchellang sind neben Micro-Mini weiterhin Favorit. Zu Micro-Mini wird – neben Netzstrümpfen – eine neue Strumpfmode propagiert: Schwarze Strümpfe, die, teils mit Strapsen befestigt, den Oberschenkel unbedeckt lassen oder über weißen Strumpfhosen getragen werden – eine extreme Mode, die Mut erfordert und vor allem für junge Mädchen infrage kommt.

Chroniknet