Der Arbeitsmarkt lahmt

Politik und Gesellschaft 1995:

Die trotz konjunktureller Belebung anhaltend hohe Arbeitslosigkeit ist 1995 in Deutschland das zentrale Thema im sozialen Bereich. Im Jahresdurchschnitt sind 3,81 Mio. Menschen ohne Beschäftigung; dies entspricht einer Quote von 10,9%.

Bei der Suche nach Auswegen aus der Krise stehen die hohen Lohn- und Lohnnebenkosten im Vordergrund, die nach Ansicht von Experten wesentlich dazu beitragen, dass Arbeitsplätze ins Ausland verlagert werden und dass die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft geschwächt wird. Für Aufsehen sorgt in diesem Zusammenhang das von IG-Metall-Chef Klaus Zwickel vorgeschlagene »Bündnis für Arbeit«: Es sieht vor, dass die Gewerkschaften als Gegenleistung für die Schaffung neuer Arbeitsplätze ihre Lohnforderungen begrenzen.

Bundesbank und Arbeitgebervertreter legen bei ihren Vorschlägen zur Senkung des Kostendrucks für die Unternehmen einen besonderen Akzent auf den Abbau der Sozialleistungen; der Deutsche Industrie- und Handelstag (DIHT) schlägt z. B. im März 1995 vor, die soziale Sicherung solle auf unverzichtbare Kernleistungen reduziert und durch private Vorsorge ergänzt werden.

Ein weiteres Problem stellt das sog. Lohndumping dar: Firmen entleihen Mitarbeiter von Unternehmen aus anderen EU-Ländern und bezahlen sie nach den weit niedrigeren Tarifen ihrer Herkunftsländer, oder die Arbeitnehmer treten formell als Selbstständige auf und umgehen damit Tarife, Arbeitszeitvorschriften und Sozialversicherungspflicht. Nachdem Ende März der Versuch gescheitert ist, in einer EU-Richtlinie Mindeststandards für die Beschäftigung von ausländischen Arbeitskräften festzulegen, verabschiedet der Bundestag im November einen Gesetzentwurf, wonach für Leiharbeiter und Scheinselbstständige aus dem Ausland vom ersten Tag an der in Deutschland geltende Tariflohn gezahlt werden muss.

Neben einer Senkung der Lohnkosten sind neue Arbeitszeitregelungen als Mittel zum Abbau der Arbeitslosigkeit im Gespräch. Die Gewerkschaften zeigen sich 1995 bereit, von ihrer Forderung nach Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich abzurücken. Die Arbeitgeber verzichten ihrerseits auf den Wunsch nach einer Ausdehnung der Arbeitszeit, verlangen aber zur Erhöhung der Produktivität eine Verlängerung der Maschinenlaufzeiten – auch am Wochenende. Für etwa ein Drittel der abhängig Beschäftigten in Deutschland ist die Arbeit am Samstag und Sonntag allerdings ohnehin bereits Realität. Bisher muss aber die Wochenendarbeit vom Betriebsrat genehmigt werden, und sie wird durch Zuschläge höher entlohnt.

Insbesondere in der Automobilindustrie gibt es eine Reihe von Modellen, die Arbeitszeit flexibler zu gestalten und sowohl der Forderung nach kürzeren Arbeitszeiten wie auch der nach besserer Maschinenauslastung und Anpassung an Schwankungen in der Auftragslage zu genügen. So besteht beim Autobauer Opel ab 1. September ein sog. Zeitkorridor, eine je nach Auftragslage variable Wochenarbeitszeit von 30 bis 38,75 Stunden bei festem Gehalt. Beim Reifenhersteller Pirelli gilt ab dem 4. Oktober eine neue Arbeitszeitregelung: An allen sieben Tagen der Woche wird im Betrieb gearbeitet, wobei für den einzelnen die Wochenarbeitszeit von 37,5 Stunden unangetastet bleibt.

Der Mangel an Arbeitsplätzen wirft auch in anderen Bereichen Probleme auf. So werden immer häufiger ältere Arbeitnehmer nicht entlassen, sondern frühzeitig in Rente geschickt. Im Durchschnitt werden die Bundesbürger mit 59,5 Jahren zu Rentnern. Da diese Entwicklung auf Dauer nicht zu finanzieren ist – schon 1995 klafft in der Rentenkasse ein Loch von 6,2 Mrd. DM -, werden nun wieder der Abbau der Vorruhestandsregelung sowie eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit diskutiert – möglicherweise um den Preis noch höherer Arbeitslosigkeit.

Chroniknet