Politik und Gesellschaft 1998:
Die Deutschen müssen im Herbst 1998 von einigen vertrauten Gesichtern Abschied nehmen: Nach 24 Jahren verabschiedet sich Horst Tappert als Oberinspektor »Derrick« vom Bildschirm, nach acht Jahren nimmt der zuletzt erfolglose Berti Vogts seinen Hut als Bundestrainer, nach 16 Jahren und 26 Tagen im Kanzleramt wird Helmut Kohl aufs politische Altenteil entlassen. Es ist der erste nicht durch den Austausch eines Koalitionspartners, sondern vom Wähler herbeigeführte Machtwechsel in fast 50 Jahren Bundesrepublik.
Mit dem Erfolg von Sozialdemokraten und Bündnisgrünen bei der Bundestagswahl am 27. September endet die bisher längste Amtszeit eines deutschen Bundeskanzlers, länger noch als die von Konrad Adenauer. Mit dem Versprechen, nicht »alles anders, aber vieles besser zu machen«, führt Gerhard Schröder die Sozialdemokraten erstmals seit 1972 wieder auf den Platz der stärksten Partei. Schröder, 14 Jahre jünger als Kohl, ein mediengewandter und machtbewusster Aufsteigertyp, setzte sich zuvor im parteiinternen Wettstreit mit SPD-Chef Oskar Lafontaine durch, der allerdings als Finanzminister eine wichtige Rolle im Kabinett spielt.
Mit der Wahl Schröders und der Vereidigung des ersten rot-grünen Kabinetts am 27. Oktober haben erstmals Angehörige der Achtundsechziger-Generation die Chance, die Politik in Deutschland zu gestalten. Doch trotz Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat bleibt in den ersten Monaten der Amtszeit der Reformeifer zu oft in Kleinigkeiten stecken und verheddert sich in den Fallstricken von Ökosteuer und Billigjobs.