Der Großteil der Bevölkerung kennt weder Urlaub noch Freizeit. Fast 50% aller Arbeiter haben einen Neuneinhalb- bis Zehnstundentag. Der Sonntag ist der einzige arbeitsfreie Tag. Daher gilt der Kampf der Arbeiterschaft nicht der Erringung von mehr Freizeit, sondern von weniger Arbeitszeit, also von freier Zeit überhaupt - neben Arbeit, Essen, Schlafen, Anziehen usw. Diese freie Zeit würden Arbeiter am liebsten mit Lesen, künstlerischer Betätigung und Weiterbildung ausfüllen, wie Untersuchungen im Ruhrgebiet ergeben haben.
Der Begriff »Freizeit« hingegen ist überwiegend religiös geprägt, vor allem evangelisch: Unter »Freizeit« wird danach das mehrtägige Gemeinschaftsleben gesinnungsverwandter Menschen an ruhigen, dem städtischen Getriebe entrückten Orten zum Zweck gemeinsamer Besinnung oder gemeinsamer Erholung verstanden. Durch die Veranstaltung von Wanderungen, durch den gemeinsamen Aufenthalt in Jugendherbergen oder Zeltlagern sollen körperliche und seelische Erholung verbunden und die Grundlage für eine sittlich-weltanschaulich stabile Lebensführung ermöglicht werden. Diese Vorstellung von Freizeit ist vor allem geprägt durch die Jugendbewegung und die Arbeit evangelischer Verbände.
Wenn von Urlaub und Freizeit die Rede ist, so ist damit das Verhalten einer relativ kleinen, aber kapitalstarken Gesellschaftsschicht und der sog. Bildungsbürger gemeint. Diese Begüterten reisen vor allem in die Seebäder, die Hochgebirgsorte und die Kunstzentren. Neben dem klassischen Reiseziel Schweiz wird für die Deutschen Norwegen zunehmend attraktiver aufgrund der jährlichen »Nordlandfahrten« von Kaiser Wilhelm II. Diese beiden Länder warten 1910 mit neuen, den Tourismus fördernden Superlativen auf: In der Schweiz werden die Besucher im Luftschiff über den Vierwaldstätter See und die angrenzende Bergwelt geflogen, in Norwegen, im Bereich des Gletschers Hardangerjøkulen, ist nach der Eröffnung der Bergenbahn erstmals Skifahren im Sommer möglich.