Zu Beginn des Jahres 1914 steht die Modewelt noch ganz im Zeichen der sog. Tangomode. Die Eigentümlichkeit dieser Mode besteht darin, dass der um die Hüften breite, zum Saum hin jedoch extrem enge Rock so gewickelt ist, dass er vorn in der Taille übereinanderliegt und unterhalb der Knie zu einem »Tangoschlitz« aufspringt, um so die notwendige Bewegungsfreiheit - zumal für den »Ausfallschritt« bei diesem südamerikanischen Paartanz zu gewährleisten.
Um den Schlitz - ein zusätzlicher Schlitz kann seitlich oder hinten angebracht sein - nicht zu hoch aufgehen zu lassen, bietet sich folgende Gangart an: Die Dame setzt nicht mehr den Fuß in gerader Linie nach vorwärts, sondern führt das rechte Bein ein wenig nach links, das linke nach rechts. Die Fußspitzen bleiben dabei nach außen gerichtet.
Als Alternative zum Schlitz ist ein Rock mit zwei oder mehreren nach unten enger werdenden Überröcken in Mode. Das Oberteil ist leicht blusig gehalten und hat ein tiefes, spitzes Dekolleté. Für Gesellschaftskleider werden generell dünne, zarte Stoffe bevorzugt.
Bei den Jacken gibt es ebenfalls zwei Modelinien: Entweder ein taillenkurzes Bolero oder eine die Hüften bedeckende und vorn unterhalb der Taille zurückgeschnittene sog. Cut-Jacke.
Als extravagant gelten weiterhin die Modelle des französischen Modeschöpfers Paul Poiret. Seine kurzen Reifröckchen, die über einem knöchellangen, engen Rock liegen, werden auf der ganzen Welt ohne sein Wissen kopiert. Dies veranlasst Poiret 1914 zur Gründung des »Syndicat de Defense de la Grande Couture Française«, dem sich dann auch die meisten französischen Couturiers anschließen.
Die katholische Kirche und manche Frauenverbände verurteilen die herrschende »unsittliche« Mode. Die Pariser Schneider verteidigen sich mit dem Argument, sie könnten »nicht gegen den Strom schwimmen, und an der Unsittlichkeit der heutigen Mode sind hauptsächlich die Amerikanerinnen schuld, denen nichts extravagant genug sein kann«. Ein Pariser Korrespondent aber stellt fest, dass »in den feinsten Pariser Restaurants die Hälfte der halbnackten Damen ehrbare Ehefrauen sind«.
Am 15. Mai 1914 wird in Köln die Deutsche Werkbund-Ausstellung eröffnet, in der ästhetische und sittlich »wertvolle« Kleidung gezeigt wird. Es sind dies Kleider, die eine Mischung aus Reformkleid und aktueller Mode darstellen, die in keiner Weise die Bewegungen des weiblichen Körpers einengen und dennoch in ihrem Aussehen fraulich und elegant wirken.
Die Vorliebe der Damen für exotische Hutfedern liefert Stoff für Diskussionen um ein Vogelschutz- Abkommen, das in den Vereinigten Staaten zu einem Einfuhrverbot von Aigretten, Seeadlerfedern und Vogelbälgen führt. Vorläufig aber verzichten die Damen nicht auf den abendlichen Kopfputz einer senkrecht stehenden Reiherfeder (Aigrette), die beim Tangotanzen mitwippen soll.
Jedes Mode- und Schneiderblatt berücksichtigt nunmehr die »Backfischkleidung«. Im Schnitt unterscheidet sich jedoch die »Kleidung für die junge Dame unter Zwanzig« nicht wesentlich von der Mode für die reife Frau; das jugendliche Kleid ist nur einfacher, im Material billiger und meist mit kindlicherem Aufputz wie Matrosenkragen, weißer Leinenkrawatte oder Umlegekragen versehen.
Auch findet man stets Nähanleitungen für Sportkleidung, beispielsweise für Badekleider mit einer darunterliegenden Hose aus Taft oder Satin, für entsprechende Gymnastikanzüge und für knöchellange Tennisröcke, ergänzt durch eine einfache Bluse.
Mit Ausbruch des Krieges kommt es in allen Staaten zu einer nationalistisch motivierten Rückbesinnung auf die eigene Schaffenskraft. Im Deutschen Reich wird deshalb bereits Ende August der »Reichsausschuss für deutsche Form« gegründet, der später in »Ausschuss für Mode-Industrie« umbenannt wird. Hauptaufgabe des Ausschusses ist es, eine »deutsche Mode voll Würde, Sitte und Anmut hervorzubringen« und sich von der »dekadenten französischen Mode« zu befreien. Die Berliner Konfektionäre betonen, dass Künstler nur selten - »als moralische Hilfsfaktoren« - hinzuzuziehen seien, da eine tragbare Mode nur von einem Konfektionär herausgebracht werden könne. Die Firma Kersten & Tuteur fügt hinzu, dass eindringlichst vor einer deutschen Mode zu warnen sei, die unter Einwirkung von Künstlern entstehe, da diese für korsettlose und abgebundene Scherze Neigung haben. Das Organ des »Deutschen Verbandes für Neue Frauenkleidung und Frauenkultur« schlägt deshalb »mäßig weite Kleiderröcke aus guten, warmen, einfarbigen deutschen Cheviots, Kammgarnen und Tuchen mit passenden, nicht zu kurzen Jacken« vor, die »in diesen ernsten Zeiten der gegebene Straßenanzug für den Winter sein werden. Schoßblusen mit angeschnittenen Ärmeln aus Münchner und Wiener Seide geben diesem Anzug eine freundliche Belebung. Für Winterhüte wollen wir mittelgroße, weiche, gute Filzformen, die einen festen Sitz haben, befürworten.«
Die gesamte Presse schließt sich nach Ausbruch des Weltkrieges diesen nationalistisch verbrämten Tendenzen an und die Überschriften lauten: »Geburt der deutschen Mode«, oder »Wir haben nicht nachgedacht, nur nachgeäfft«.