Die vom preußischen Kultusministerium im März 1924 veröffentlichte Denkschrift über »Die Neuordnung des preußischen höheren Schulwesens« löst eine breite Diskussion aus. Immerhin betrifft dieses Reformvorhaben mit der preußischen etwa zwei Drittel der deutschen höheren Schulen. Gestalter der Reform ist Hans Richert, seit 1923 Ministerialrat im preußischen Kultusministerium. Als »Richertsche Schulreform« wird sie im Jahr 1925 in Preußen verwirklicht. Zunächst betont die Denkschrift mit Nachdruck, dass die Reform in ihren organisatorischen Grundgedanken und in ihren Bildungszielen, keine, wie Kritiker argwöhnen, »mit schönen Worten verschleierte Sparmaßnahme« sei. Vielmehr ergebe sie sich mit innerer Notwendigkeit aus der veränderten »Kulturlage« im Deutschen Reich seit 1901, dem Jahr der letzten Reform und aus der reformpädagogischen Bewegung der letzten Jahre.
Angestrebt wird ein Bildungssystem, das in seinen verschiedenen Stufen und Formen innerlich aufeinander bezogen und nach einheitlichen Gesichtspunkten gestaltet ist. Dieses System bezeichnet Richert als »Einheitsschule«. Die künftigen höheren Schulen sollen in diesem »System der Einheitsschule eine organische Verbindung mit der Volksschule und der Hochschule« (Richert) bilden. Damit verbinden sich, wie Preußens Kultusminister Otto Boelitz (DVP) ausführt, »starke soziale Gedanken: für alle Kinder das gleiche Recht auf Bildung und Erziehung, Beseitigung der Standesschule, Überbrückung der Gegensätze im Volk im Sinne der Erziehung zur Volksgemeinschaft«.
Grundgedanke der Reform des höheren Schulwesens ist die größere Selbstständigkeit der Schüler:
»Die Verkürzung der Wochenstundenzahl auf 30 und damit der Überfülle und Buntheit der Lehrstoffe und Lehrfächer ist die Voraussetzung einer Vertiefung, die in selbständigen zusammenhängenden Arbeiten der Schüler im Gegensatz zur hastigen nach Minuten berechneten Hausarbeit ihr Ziel sieht ... Die freien Nachmittage sollen der körperlichen, seelischen und geistigen Gesundheit der jetzt über Gebühr belasteten Jugend dienen ...«
Die Reform will das starre System der Lehrpläne und der Prüfungsordnung durch das »Grundprinzip der Freiheit« überwinden. Angestrebt wird die Durchdringung der Bildung mit kunsterzieherischen, staatsbürgerlichen und sozialen Erziehungsgedanken gemäß den Idealen der Jugendbewegung (Wandervogel). Eine bemerkenswerte Neuerung im höheren Schulwesen ist die später auch in einigen anderen Ländern neben Gymnasium, Realgymnasium und Oberrealschule eingeführte Deutsche Oberschule mit Deutsch, Geschichte, Religion (den sog. »Wandervogelfächern«) und Kunst als Kernbereich der Bildung.
Mit der Reform werden auch Einsparungen erreicht. Da die Klassenfrequenzen nicht mehr steigen sollen - durch den seit 1914 bedeutenden Zuwachs an Schülern und Schülerinnen an den höheren Schulen entfielen 1923 auf jede Lehrkraft schon 23 Schüler und 21 Schülerinnen (1914: 20 und 20) -, soll u. a. durch Erhöhung der Pflichtstundenzahl der Lehrer auf 25 pro Woche gespart werden.
Kritiker halten dagegen eine Verkürzung der höheren Schule von neun auf acht Jahre für sinnvoller. Seit nämlich durch das Grundschulgesetz vom 28. April 1920 die vierklassige Grundschule als Pflichtschule eingeführt und die sog. Unterrichtspflicht, die auch im häuslichen Unterricht erfüllt werden konnte, beseitigt worden ist, treten viele Eltern und zahlreiche Städte aus Kostengründen für eine Verkürzung der Klassenstufen in den höheren Schulen ein, um die Gesamtdauer des Schulbesuchs wieder zu reduzieren.