»Lassen Sie sich nicht von Modernisten in die Irre führen. In 20 Jahren wird man diese Betonklötze nicht mehr sehen wollen ... Diejenigen aber, die den Geist der alten Bauwerke zu neuem Leben erwecken, werden damit etwas Unsterbliches schaffen.« So wettert Bundeskanzler Konrad Adenauer Anfang des Jahres gegen die moderne Architektur. Anders als vom Regierungschef gefordert, ist die bundesdeutsche Architektur der frühen 50er Jahre jedoch auf der Suche nach einem Neubeginn. Viele Bauten dokumentieren das Bemühen um eine Abgrenzung von der zurückliegenden pompösen Baukultur des Nationalsozialismus und um die Schaffung einer neuen Nachkriegs-Identität.
Der Schwere der faschistischen Prunkbauten wird der Eindruck einer beinahe schwebenden Leichtigkeit entgegengesetzt. An die Stelle kompakt wirkender Großflächigkeit treten transparente Wände mit breiten Verglasungen und zierlichen Stützen. Starre Gradlinigkeit wird durch dynamische Bauweise mit schwungvollen Formen ersetzt. Die bundesdeutschen Architekten orientieren sich vor allem an US-amerikanischen Vorbildern der 40er Jahre. Führende Meister ihres Fachs wie die Deutschen Walter Gropius und Ludwig Mies van der Rohe, die während der Zeit des Nationalsozialismus in die USA emigriert waren, geben der deutschen Architektur wieder schöpferische Impulse.
»Repräsentative« Bauten, in denen sich der funktionalistische architektonische Zeitgeist besonders deutlich widerspiegelt, sind in erster Linie die neuen Verwaltungs- und Geschäftsgebäude, die allmählich das Bild bundesdeutscher Großstädte prägen. Das Arbeitsamt in Hannover von Dieter Österlen, das Kaufhaus Merkur in Reutlingen von Egon Eiermann und das Hochhaus des Mannesmann-Konzerns in Düsseldorf von Paul Schneider-Esleben sind in diesem Jahr Beispiele für solche Bauten. Typisch ist dabei die strikte bauliche Trennung unterschiedlicher Funktionsbereiche; große Versammlungsäle oder Wirtschaftsgebäude werden z. B. meist außerhalb der hohen Bürotrakte untergebracht. Oft beginnt der umbaute Raum erst oberhalb des Erdgeschosses, während die darunterliegende Ebene frei bleibt. Auch dies wird funktionalistisch begründet: Die Trennung der Verkehrsebene der Straße vom Arbeitsbereich soll so deutlich werden.
Vorherrschend bei Großbauten ist die sog. Stützrasterarchitektur: Dabei hat allein das Stahlbetonskelett tragende Funktion, nicht aber Innen- und Außenwände. Diese Bauweise sowie der Einsatz neuer Materialien, wie Leichtmetall und wärmedämmendes Glas, prägen das Erscheinungsbild der meisten Neubauten. Breite, teilweise ununterbrochen durchlaufende Fensterfronten, die für die Fassaden vieler Verwaltungsbauten charakteristisch sind, werden durch die Rasterarchitektur erst möglich. Zeittypisch sind außerdem verkleidete Fassaden. Beliebtes Material ist hier besonders Aluminium, das durch eine bestimmte Oxydierungsmethode verfärbt wird. In Pittsburgh (USA) entsteht z. B. als Verwaltungsgebäude ein 125 m hoher Wolkenkratzer, dessen Außenwände ganz aus Aluminium sind.