Schon bevor die Entscheidung des Nobelpreiskomitees bekannt wird, feiert das deutsche Feuilleton Herta Müllers 2009 veröffentlichten Roman »Atemschaukel« als Ereignis von europäischem Rang. Die als Angehörige der deutschen Minderheit 1953 in Rumänien geborene Autorin behandelt darin das Schicksal der Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben, die 1945 zu Zehntausenden in die Sowjetunion verschleppt wurden: Aufgrund ihrer deutschen Volkszugehörigkeit standen sie unter dem Generalverdacht des Nazismus. Erst 1950 kamen sie aus dem Straflager frei, sofern sie denn überlebt hatten.
Müllers Schriftstellerkollege Oskar Pastior war einer von ihnen, und mit ihm zusammen wollte sie das Buch ursprünglich schreiben; er starb 2006. Zahlreiche Rezensenten rühmen die Autorin dafür, wie es ihr gelinge, Leid in poetische Sprache zu bannen, doch es gibt auch kritische Stimmen: So erlebt Iris Radisch gerade diese Sprache als kunstgewerblich und beharrt darauf, dass Schriftsteller, die solche Lagererfahrung nicht selbst durchlebt hätten, sie auch nicht überzeugend literarisch gestalten könnten.
»Atemschaukel« galt als Favorit für den Deutschen Buchpreis, doch nachdem die Verfasserin nun Literaturnobelpreisträgerin ist, hält es die Jury vielleicht nicht für angemessen, ihr noch einen weiteren Preis zu verleihen. Sie vergibt die begehrte Auszeichnung in einem einstimmigen Votum an den Roman »Du stirbst nicht« der 1958 in Gotha geborenen Kathrin Schmidt. Grundiert durch ihre eigene schwere Krankheitserfahrung, schildert Schmidt in ihrem vierten Roman, wie die Schriftstellerin Helene Wesendahl nach einer Gehirnblutung im Krankenhaus erwacht und feststellt, dass sie ihre Bewegungsfähigkeit und ihre Sprache verloren hat. Die Leser des Buches werden Zeugen ihres körperlichen Genesungsprozesses und ihrer allmählichen Rückgewinnung der Sprache, die einhergeht mit einer Rückgewinnung des Weltverständnisses, der Rückbesinnung auf ihr Leben vor der Erkrankung und der Kontrolle über die eigenen Gefühle und deren Ausdruck. Die Kritik zeigt sich begeistert, wie es der Autorin gelingt, diesen Prozess subtil nachzuzeichnen, ohne je sentimental zu werden – im Gegenteil, sie und ihre Figur bewiesen Humor und Wortwitz.
In mancherlei Hinsicht ist Sibylle Lewitscharoffs Roman »Apostoloff« mit »Du stirbst nicht« vergleichbar: Auch er ist autobiografisch geprägt, auch diese Autorin erweist sich als humorvoll und sprachmächtig. Die 1954 als Tochter eines Bulgaren und einer Schwäbin in Stuttgart geborene Schriftstellerin ähnelt schon durch diese Familienkonstellation ihrer Hauptfigur. Die fährt mit der Schwester und einem bulgarischen Fahrer durch die Heimat des Vaters und mokiert sich dabei in einer nicht enden wollenden Suada über die Schrecklichkeiten dieses immer noch von den Hinterlassenschaften des Kommunismus gezeichneten Landes, über Architektursünden, verkitschtes Geschichtsverständnis und erbärmliche kriminelle Machenschaften. Ziel ihres Spottes sind aber in Rückblenden auch der eigene Vater, ein Frauenarzt und Schürzenjäger (er hat sich das Leben genommen, als die Schwestern noch klein waren), und die verbitterte, ständig rauchende Mutter. Anlass der Bulgarien-Reise ist die Überführung der Leichen von 19 Exilbulgaren, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Stuttgart kamen, in die angestammte Heimat – ein grotesker Leichenzug. Auch hier ist es vor allem die girlandenreiche, ätzende Sprache, die der Autorin viel Lob einbringt.